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3) Der Calvinismus legt die Betonung des Heilsplans auf das Handeln Gottes

Er bliebe ein sehr »unvollkommener« Christ, wenn ihm die tieferen Wahrheiten der Prädestinationslehre verborgen bleiben. Weder kann er Gottes Herrlichkeit angemessen würdigen, noch kann er den Reichtum der Gnade, der ihm durch die Erlösung in Christus entgegengebracht worden ist, richtig schätzen, denn nirgendwo sonst als in der Prädestination der Erwählten strahlt die Herrlichkeit Gottes in dieser Größe auf — ungedämpft und unbefleckt von menschlichem Zutun. Hier erkennen wir, dass wir alles, was wir sind, haben und wünschen mögen, einzig und allein Gottes Gnade verdanken.

Diese Lehre ist eine Absage an den menschlichen Stolz. Sie preist die göttliche Barmherzigkeit. Der Mensch wird zu nichts und Gott ist alles; die wahre Beziehung zwischen Geschöpf und unendlichem Schöpfer wird hier bewahrt, der absolute Herrscher geehrt. Alle Herrschaft wird ihm unterstellt; ohne Gottes Gunst sind alle Menschen auf einer Ebene. Diese Lehre hat die Menschenrechte verfochten, wo immer sie hingekommen ist, sei es in Staat oder Kirche. Die Prädestinationslehre betont die göttliche Seite der Erlösung, während rivalisierende Lehren den Menschen betonen. Die Prädestinationslehre streicht den reinen Gnadencharakter des Heilswegs heraus und zeigt, dass wir um nichts besser sind, als jene, die für ihre Sünden leiden werden. Sie leitet uns zu mehr Wohltätigkeit und Toleranz gegenüber den Verlorenen und zu ewiger Dankbarkeit gegen über Gott, unserem Retter. Sie zeigt uns auch, dass alle menschliche Erkenntnis im gefallenen Zustand wertlos ist, dass unsere Kraft in Wahrheit Schwäche ist und unsere Gerechtigkeit keinen Pfifferling wert ist. Sie lehrt uns, unsere Hoffnung ganz allein auf Gott zu setzen; sie lehrt uns, dass Hilfe nur von ihm kommen kann. Sie lehrt uns gerade jene wichtige Lektion, die so viele nicht erkannt haben: Die gesegnete Lektion des Selbstmisstrauens.

Luther erzählt, dass diese Lehre ihn oft angegriffen habe, dass er darüber an sich verzweifelt sei, dass aber gerade diese Verzweiflung ihn zur Gnade Gottes getrieben habe. Diese Lehre löst mehr Fragen und vermeidet mehr Schwierigkeiten als jede konträre Lehre; sie gewährt eine solide Grundlage für Glauben und Hoffnung und räumt Gott einen wesentlich höheren Stellenwert ein, als das widersprechende Lehren tun. Ich sage nicht zu viel, wenn ich sage: Sie war die Grundlage für die gottesfürchtigen Auffassungen der biblischen Autoren; die Eliminierung dieser Lehre ließe die ganze Bibel in anderem Licht erscheinen. Dr. J. Gresham Machen hat das sehr schön ausgedrückt:

»Der Calvinist sieht in der arminianischen Theologie den gefährlichen Versuch, die biblische Lehre von der göttlichen Gnade zu verarmen, dem Arminianer hingegen müssen die Lehren der Reformierten Kirchen höchst bedenklich erscheinen.253253     Gresham Machen, Christianity and Liberalism S. 51.

Es sollte nun klar geworden sein, dass evangelikale Christen, die diesen Sachverhalt richtig studiert haben und die konsequenten Schlussfolgerungen daraus gezogen haben, diesen Sachverhalt aus nur zwei Perspektiven sehen können: entweder sind sie Calvinisten oder Arminianer. Es gibt keine Zwischenposition.254254     Entwicklungsgeschichtlich gibt es freilich halb beschrittene Wege. In vielen Freikirchen gilt nur mehr der 5. Punkt des Calvinismus als biblisch. Man räumt ein, dass es „eigentlich“ Gottes Gnade war, die einen einholt, dass man sich „freiwillig“ (man verwechselt dabei konsequent den von Luther bekämpften „freien Wilen“ mit seiner Freiwilligkeit, die ja auch der Calvinismus nicht bestreitet) für Gott entscheidet, dass es aber doch „eigentlich“ Gott sei, dem die Ehre gebührt. So lautet das persönliches Zeugnis. Der echte Arminianer (etwa das Lehrgebäude der Siebenten Tags Adventisten) denkt da konsequenter: Wenn man sich freiwillig entscheidet, dann kann man sich auch irgendwann — was Gott freilich verhüten möge — auch wieder gegen Gott entscheiden und verlorengehen. Sein Heiligungsperfektionismus ist mitunter von dieser Angst motiviert; wie eine Prädestination noch irgendwelche Beweggründe für das Streben nach Heiligung liefern soll, bleibt ihm verborgen. Der Antrieb zu heiligem Leben, wie ihn die durch und durch calvinistischen Puritaner an den Tag legten, muss ihm ein Rätsel bleiben. Der Arminianismus wird daran erkannt, dass er die letzte Entscheidung über sein ewiges Schicksal den Menschen treffen lässt. Gott bleibt derjenige, der diese menschliche Entscheidung akzeptiert, er bleibt Antwortender, nicht Initiator des Heils (A. d. Ü.). Wer den Opfercharakter des Todes Jesu leugnet, fängt sich in Selbsterlösungssystemen oder im Naturalismus — man kann sie füglich nicht als »Christen« im historischen und wahren Sinn bezeichnen.

Die Lutherische Kirche betont die Erlösung allein aus Glauben, die Baptisten betonen die Wichtigkeit der Sakramente (besonders das Sakrament der Taufe) und das Recht des Einzelnen und der Versammlung, Einzelnen in Glaubensfragen ein Urteil zu sprechen. Die Methodisten betonen  die Liebe Gottes zum Menschen und die menschliche Verantwortung gegenüber Gott, die Kongregationalisten das Recht, einen Mitchristen zu richten, daneben noch das Recht auf Selbstbestimmung örtlicher Versammlungen; die römisch-katholische Kirche betont die Einheit der Kirche und weist auf die Wichtigkeit der Verbindung zum apostolischen Zeitalter hin. Das mag an sich alles gut sein, doch müssen diese Bewegungen vor der großen Lehre der göttlichen Souveränität und Majestät erbleichen, wie sie die Presbyterianischen und Reformierten Kirchen hochhalten. Während die anderen Lehrgebäude mehr oder weniger anthropologischen Prinzipien folgen, folgen wir einem theologischen Prinzip: Es präsentiert uns einen großen Gott, der hoch erhaben ist und dessen Thron  von universaler Bedeutung ist.

Dr. Warfield hat die bildenden Prinzipien des Luthertums und der Reformierten Kirchen analysiert. Nachdem er festgestellt hat, dass der Unterschied zur Reformierten Kirche nicht darin bestehe, dass etwa die Lutheraner die Souveränität Gottes leugnen oder dass die Reformierte Kirche  die Errettung allein aus Glauben verneine, fügt er hinzu:

»Das Luthertum entsteht aus der Agonie der schuldbeladenen Seele, die ihren Frieden mit Gott sucht. Sie findet diesen Frieden im Glauben und bleibt genau da stehen. … Wenn dieser Seelenzustand des Friedens hergestellt ist, will es nichts darüber hinaus wissen. Der Calvinist fragt mit demselben Eifer wie das Luthertum: ›Was muss ich tun, um gerettet zu werden?‹ und beantwortet diese Frage auch gleich wie der Lutheraner. Doch dabei kann er nicht stehen bleiben. Eine tiefere Frage drückt ihn: ›Woher kommt dieser Glaube, der mich rechtfertigt?‹ … Ohne Zweifel eifert der Calvinismus um die Frage der Erlösung, doch sein höchster Eifer gilt der Ehre Gottes; diese Frage ist es, was seinen Puls beschleunigt und seine Bemühungen anspornt. Er beginnt mit der Vi- sion von Gottes Herrlichkeit, sieht darin das Zentrum und auch das Ende und setzt sich das Ziel, sich in allen Dingen Gott auszuliefern.«255255     B. B. Warfield, Article, Calvin as a Theologian and Calvinism Today, S. 23, 24.

Woanders sagt er:

»Die Vorstellung der Majestät Gottes ist mit einem Wort die Grundlage des calvinistischen Denkens.«256256     Quelle nicht angegeben

Diese Vorstellung im Gedächtnis, weiß sich der Mensch einerseits in seiner Unwürdigkeit vor Gott, sieht sich als Geschöpf, mehr noch, als sündiges Geschöpf — und bewundert andererseits  anbetend, dass Gott den Sünder trotzdem annimmt. Jedes Selbstvertrauen ist geschwunden; der Mensch stellt sich selbst allein der Gnade Gottes anheim. Er sieht, egal ob in der Natur, ob in der Geschichte, ob in der Gnade überall von Ewigkeit zu Ewigkeit das alles durchdringende Handeln Gottes.

Wenn Gott einen bestimmten Plan zur Erlösung des Menschen hat, dann ist die Kenntnis dieses Plans unabdingbar. Wer eine komplizierte Maschine betrachtet, aber den Zweck dieser Maschine nicht kennt noch weiß, wie die einzelnen Teile zueinander in Beziehung stehen, kann die Maschine weder verstehen noch verwenden. Wenn wir den Plan zur Erlösung nicht kennen, das Ziel dieses Plans nicht verstehen oder die Verbindung der einzelnen Teile nicht kennen oder missverstehen, bleiben unsere Ansichten ein Durcheinander; wir werden sie nicht nur falsch auf uns selbst anwenden, sondern auch unfähig bleiben, sie anderen zu erklären. Da uns die Prädestinationslehre sehr viel über den Weg der Erlösung verrät und da sie ein großer Trostgrund ist, der dem Christen Sicherheit vermittelt, ist sie eine große und gesegnete Wahrheit. Ich zögere nicht, zu behaupten: Dieses vom Heiligen Geist inspirierte Glaubens- und Lehrgebäude ist das wahre und endgültige philosophische System. Während die Theologie Gott selbst zum Gegenstand hat, beschäftigen sich die Naturwissenschaften und die freien Künste lediglich mit seinen Kleidern.

Die Theologie muss der Natur der Sache nach die »Königin der Wissenschaften« heißen.257257     Die tiefsitzende Bildungsfeindlichkeit mancher Christen hat dazu geführt, dass schon bei der Nennung der Begriffe „Theologie“, „Wissenschaft“ oder „Philosophie“ höchstes Misstrauen und blitzartige innere Abwehr die Reaktionen sind. Wissenschaft und Philosophie seinen per se falsch, kann es da heißen. Da nimmt es nicht Wunder, dass die arminianische Apologetik so wenig überzeugt — den Nichtchristen nicht und auch so manchen Christen nicht, dem erhobene Zeigefinger und Warnungen vor „ungeistlichem Geschwätz“ zu wenig sind, sondern der seine Freude daran hat, über Gott und Welt nachzudenken (A. d. Ü.). Die Philosophie, wie sie üblicherweise von den verschiedenen Denkschulen herrührt, ist in der Tat der Boden, ja die Magd der bloß anthropozentrischen Wissenschaften; in Verbindung mit dem Studium der Theologie ist sie lediglich Hilfswissenschaft. Die calvinistische Theologie ist das großartigste Gedankengebäude überhaupt, das je den menschlichen Verstand beschäftigt hat. Ihr Ausgangspunkt ist die tiefgreifende Bewusstmachung der Größe und Vollkommenheit Gottes. Mit ihren überragenden Lehren von Gottes Gnade, Macht und Herrlichkeit greift sie weit höher als jedes andere System. Jeder, dem dieses Gedankengebäude gezeigt wird, muss mit dem Psalmisten sagen: »Zu wunderbar ist für mich solch Wissen, zu hoch — ich begreife es nicht.« Oder er wird es mit den Worten Paulus’ ausdrücken: »O Tiefe des Reichtums und der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unerforschlich sind seine Ratschlüsse, wie unergründlich seine Wege!« (Ps 139,6; Röm 11,33). Dieses Lehrgebäude hat den Verstand aller großen Denker ernsthaft herausgefordert, und es verwundert nicht, wenn es heißt, dass selbst Engel begehren, Einblick zu tun. Der Übergang aus einem anderen Lehrsystem in den Calvinismus gleicht dem Übergang von der Mündung eines Stromes ins offene Meer. Wir lassen die seichten Gewässer zurück und schwimmen hinaus in die endlose Tiefe.


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