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6) Art und Weise der Willensbestimmung
Als vernünftiges Wesen braucht der Mensch für sein Handeln in gewissem Sinn immer einen Grund. Der Wille entscheidet sich immer zugunsten der stärkeren Motive. Hätte er keinerlei Motive, könnte er überhaupt keine Entscheidung treffen. Das Gewissen macht uns sicher, für alles und jedes, was wir getan haben, einen ausreichenden Grund gehabt zu haben; wir wissen, dass wir anders hätten handeln können, wenn wir zum Zeitpunkt der Handlung bzw. kurz vorher andere Ansichten und Gefühle gehabt hätten. Manchmal leiten uns schwache Gründe zur Tat; wir entscheiden vielleicht aufgrund von Fehlurteilen, aber wie dem auch sei: der Grund reicht jedenfalls aus, um uns zum Handeln zu bewegen. Das Zünglein an der Waage ändert seine Richtung nur, wenn ein ausreichender Grund dazu vorhanden ist. Mag sein, ein Mensch entscheidet sich für etwas Unangenehmes, doch jeder Entscheidung liegen Motive zugrunde, ohne welche sie gar nicht getroffen würde. Jemand kann sich beispielsweise dazu entschließen, seine Zähne reißen zu lassen, und eine solche Entscheidung muss wahrlich gute Gründe haben. Wie sucht man sonst den Schmerz zu vermeiden! Wie schon angedeutet: man neigt nicht dazu, Dinge zu wählen, die der eigenen Neigung entgegenstehen; genauso wenig wählt man gegen seinen Geschmack. Jemand, der es vorzieht, in Kalifornien zu leben, kann nicht gleichzeitig in New York leben wollen.
Die menschlichen Willensakte werden von seiner eigenen Natur gesteuert und stehen in Übereinstimmung mit seinen Wünschen, mit seiner Disposition, seinen Neigungen, seiner Erkenntnis und seinem Charakter. Der Mensch ist nicht von Gott unabhängig, genauso wenig wie von Denkgesetzen oder auch Naturgesetzen. All diese Dinge beeinflussen sein gesamtes Wollen und Wählen. Er handelt immer gemäß seinen stärksten Motiven und Neigungen. Wenn wir darüber nachdenken, wissen wir genau: was uns zu einem gegebenen Zeitpunkt am meisten anzieht, das wird unseren Willen unausbleiblich festlegen. Dr. Hodge sagt dazu:
»Der Wille wird durch kein Gesetz der Notwendigkeit gezwungen; er ist nicht unabhängig, nicht indifferent oder gar selbstbestimmend, sondern er wird immer von dem bestimmt, was eine Person vorher gedacht hat. Ein Mensch ist genau dann frei, wenn seine Willensakte mit den Bewusstseinsinhalten übereinstimmen; er ist frei, wenn sein Handeln von seinen Gründen und Gefühlen gelenkt und bestimmt wird.«188188 Charles Hodge, Systematic Theology, Bd. 2., S. 288.
Wenn die Willensakte nicht von unserem Charakter bestimmt wären oder darauf basierten, dann wäre es gar nicht unser Wille, von dem wir da sprächen, auch könnten wir nicht dafür verantwortlich gemacht werden.189189 Der Schweizer Philosoph Peter Bieri sagt: »Nehmen wir an, Sie hätten einen unbedingt freien Willen. Es wäre ein Wille, der von nichts abhinge: ein vollständig losgelöster, von allen ursächlichen Zusammenhängen freier Wille. Ein solcher Wille wäre ein aberwitziger, abstruser Wille. Seine Losgelöstheit nämlich würde bedeuten, dass er unabhängig wäre von Ihrem Körper, Ihrem Charakter, Ihren Gedanken und Empfindungen, Ihren Phantasien und Erinnerungen. Es wäre, mit anderen Worten, ein Wille ohne Zusammenhang mit all dem, was sie zu einer bestimmten Person macht. In einem substantiellen Sinne des Worts wäre er deshalb gar nicht Ihr Wille.« Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit, Fischer Taschenbuch Verlag, 8. Auflage 2007, S. 230 (A. d. Ü.). In unserer täglichen Beziehung zu anderen Menschen beziehen wir ihr Handeln instinktiv auf ihren Charakter und beurteilen sie danach. »An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Liest man etwa von Dornen eine Traube, oder von Disteln Feigen? Also bringt jeder gute Baum gute Früchte, aber der faule Baum bringt schlechte Früchte. Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte bringen, noch ein fauler Baum gute Früchte bringen. Jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. Deshalb, an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen« (Mt 7,16—20). Und wiederum: »Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über« (Mt 12,34). Kein Baum bringt seine Früchte nach dem Zufallsprinzip hervor, sondern nach seiner Natur. Nicht die gute Frucht macht den Baum gut. Es ist gerade umgekehrt. Nach dem Gleichnis Jesus ist es beim Menschen nicht anders. Wenn das Verhalten eines Menschen keine Rückschlüsse auf dessen Charakter zuließe, wären gute Handlungen kein Erweis für einen guten Menschen. Auch könnte man nicht sagen, nur weil er böse handle, sei er auch böse. Man mag immerhin auf seinem Argument vom »freien Willen« beharren; im Alltag sind sich die Menschen einig, dass der Wille das Ergebnis und die Offenbarung jemandes Wesens, jemandes Natur ist. Wenn jemandes Willen ihn zu Raub und Mord führt, dann schließen wir aus diesen Taten auf seinen Charakter und behandeln ihn entsprechend.
Es entspricht dem Wesen der Vernunft, dass der Wille auf Verstand, Prinzipien, Gefühlen etc. beruht. Wer anders handelt, den nennen wir verrückt. Angenommen, nach jeder Entscheidung fiele der Wille wieder in den Zustand der Unentschiedenheit zurück, unberührt von gut und böse; fiele damit nicht auch jegliche Möglichkeit des Vertrauens in unsere Mitmenschen flach? Tatsächlich wäre ein Mensch, dessen Wille wirklich »frei« wäre, ein sehr gefährlicher Zeitgenosse: seine Handlungen wären irrational; wir würden zu keiner Zeit wissen, was er als nächstes anstellen wird.
Genau auf dieser Tatsache (dass der Wille Ausdruck der Natur einer Person ist) beruht das Beharren sowohl der Geretteten als auch der Verlorenen im Diesseits und im Jenseits. Wenn es zur Wahrung der Willensfreiheit notwendig sein sollte, dass er auch der Möglichkeit zum Sündigen ausgesetzt würde, so gäbe es keinerlei Sicherheit, dass selbst die vollendeten Heiligen im Himmel nicht mehr sündigen könnten und den Weg der gefallenen Engel gehen müssten.
Im Gegenteil: Die Heiligen werden nur mehr das Gute tun können und damit im wahrsten Sinn des Wortes frei sein.
Es gibt dann keine Zerrissenheit mehr; die vervollkommneten Willen der Heiligen werden mit der Sicherheit eines Naturgesetzes nichts anderes als gute Werke hervorbringen. Der Zustand der Verdammten stimmt mit dem der Heiligen überein: nachdem ihnen jeglicher Einfluss des Heiligen Geistes entzogen ist, geraten sie in ihren letzten, unabänderlichen und endgültigen Trotz; sie verbleiben in alle Ewigkeit in ihren Aufsässigkeiten, Lästerungen und Sünden.
Sie werden in einen Zustand unaufhörlicher Neigung zum Bösen und zum Hass versetzt. Sie sind dann im Land der Sünde keine Gäste und Fremde mehr, sondern Bürger und Einwohner. Wäre die Theorie vom freien Willen wahr, so müsste es ja auch nach dem Tode noch möglich sein, zu bereuen, denn es ist mehr als nur vorstellbar, dass nach dem bösen Erwachen im Jenseits einige ihren Fehler einsehen werden und zu Gott umzukehren suchen. Milde Strafen können einen Menschen in dieser Welt zum Umdenken bringen; Menschen können dadurch von Sünden ablas- sen: Wie sollte da ein wesentlich härteres Strafgericht nicht auch wesentlich effektiver sein? Nur das calvinistische Prinzip, dass nämlich der Wille von der Natur einer Person und von den Anreizen, denen sie ausgesetzt ist, determiniert wird, stimmt mit jener Schriftstelle überein, in der es heißt, dass zwischen den beiden Zuständen in der Ewigkeit »eine große Kluft befestigt (ist), damit die, welche von hier zu euch hinübergehen wollen, nicht können, noch die, welche von dort zu uns herüberkommen wollen« (Mt 16,26).
Wer über diese Dinge noch nicht nachgedacht hat, wird sich selbst große Freiheit zusprechen. Wer sich aber auf ein Studium dieser Dinge einlässt, sieht sehr schnell, dass er weniger Freiheit besitzt, als er dachte. Die Naturgesetze begrenzen seine Freiheit, dann auch seine bestimmte Umgebung, seine Gewohnheiten, jede unerlernte Fähigkeit, soziale Umstände, die Furcht vor Strafe und Missbilligung, seine Wünsche, Ambitionen usw. Er ist weit davon entfernt, der Herr seiner Handlungen zu sein. Zu jeder Zeit ist er beinahe das Produkt seiner Vergangenheit. So lange er seiner eigenen Natur gemäß handeln kann, hat er alle Freiheit, die ein Geschöpf haben kann. Jede andere Freiheit wäre nichts als Anarchie.
Man kann einen Goldfisch im Glas herumtragen; der Goldfisch wird sich ungehemmt bewegen können und sich ungezwungen fühlen. Aus der Physik wissen wir, dass es Bewegung in der Ruhe gibt: wenn wir einen Stein, ein Stück Holz oder ein Stück Metall ansehen, dann scheinen diese Dinge völlig ruhig zu sein, aber wenn wir sie unter einem geeigneten Mikroskop betrachten könnten, das in der Lage wäre, die Molekularbewegung zu zeigen, dann sähen wir, mit welch gewaltigen Geschwindigkeiten die Elektronen um die Atomkerne kreisten. Prädestination und Handlungsfreiheit sind die zwei Säulen am Eingang eines gigantischen Tempels: sie treffen einander hoch oben in den Wolken, wohin der Blick des Menschen nicht mehr reicht. Man könnte sie auch als zwei parallele Linien beschreiben: Genauso, wie der Calvinismus sie nicht zusammenbringt, kann der Arminianismus sie nicht sich kreuzen lassen.190190 C. H. Spurgeon sagt über diese beiden Linien: »Ich glaube nicht, dass sie je auf irgendeinem irdischen Amboss zu einer einzigen Wahrheit zusammengeschmiedet werden können, aber sie werden sicher in der Ewigkeit eins sein. Sie sind zwei Linien, die so parallel sind, dass der menschliche Verstand ihnen so weit, wie es geht, folgen kann, ohne zu sehen, dass sie sich jemals treffen. Aber sie treffen sich und werden eins, irgendwo in der Ewigkeit, nahe bei dem Thron Gottes, wo alle Wahrheit entspringt.« Die Predigt ist im Internet unter www.Calvinismus.de zu finden. (A. d. Ü.) Wenn »freier Wille« bedeuten soll, dass die absolute Determiniertheit aller Handlungen dem Menschen selbst zuzuschreiben sei, dann stimmen wir gerne zu. Einen solchen Willen würden wir wahrlich als »freien Willen« bezeichnen, denn dann wäre der Mensch wie Gott geworden — eine erste Ursache aller Handlungen — und wir hätten so viele Halbgötter, wie es »freie Willen« gibt.
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