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10) Johannes Calvin
Johannes Calvin wurde am 10. Juli 1509 in Noyon (Frankreich) geboren, einer alten Domstadt etwa hundert Kilometer nordöstlich von Paris. Sein Vater, ein Mann von eher düsterem Charakter, war Generalprokurator des Domkapitels von Noyon und damit ein enger Vertrauter der besten Familien der Nachbarschaft. Seine Mutter war für ihre Schönheit und Frömmigkeit bekannt. Sie verstarb noch während seiner Jugendzeit. Er genoss die beste Ausbildung, die Frankreich zu jener Zeit zu bieten hatte; er studierte nacheinander an den drei führenden Universitäten Frankreichs: Orleans, Bourges und Paris (von 1528 bis 1533). Sein Vater wollte für seinen Sohn das Studium der Rechte, da dies mit Wohlstand und Ansehen verbunden war. Calvin fühlte sich aber zum Studium der Theologie hingezogen und widmete sich noch in frühen Jahren diesem Studium; dort fand er jenen Arbeitsbereich, der seinen natürlichen Begabungen und seiner persönlichen Wahl entsprach. Es heißt, er war scheu und zurückhaltend, sehr lernbegierig und in seiner Arbeit pünktlich; von starkem Pflichtgefühl angetrieben, war er sehr religiös. Sein logisches Talent, das sich in seiner klaren Ausdrucksweise und seiner überzeugenden Argumentierkunst zeigte, wurde schon sehr bald bemerkt. Sein Fleiß erwarb ihm bald großes Wissen, wenn auch zulasten seiner Gesundheit. Er lernte so schnell, dass ihm schon sehr bald eine Professur angeboten wurde; seine Kommilitonen hielten ihn eher für einen Lehrer als für einen der ihren. Zu dieser Zeit war er ein aufrichtiger, unbescholtener Katholik. Als er sich dem Protestantismus zuwandte, eröffneten sich ihm glänzende Karrieremöglichkeiten als Humanist, Anwalt oder als Geistlicher; es wurde ihm allerdings auch das Los einer armen, verfolgten Minderheit zuteil.
Ohne dies angestrebt zu haben, ja, gegen seinen eigenen Wunsch sogar wurde Calvin der Kopf der evangelischen Partei in Paris, weniger als ein Jahr nach seiner Bekehrung. Sein profundes Wissen und sein gesetztes Auftreten beeindruckte viele sehr stark. Er blieb zwar noch in der katholischen Kirche und hoffte, sie statt von außen von innen her reformieren zu können. Schaff erinnert daran, dass
»alle Reformatoren innerhalb der katholischen Kirche geboren, getauft, konfirmiert und ausgebildet worden waren. Wie auch die Apostel beschnitten und in der Synagoge gelehrt worden waren, die sie nachmals ausgestoßen hatte, so verstieß auch die katholische Kirche die Reformatoren.«357357 Philip Schaff, The Swiss Reformation, S. 312.
Ernst und der Eifer des neuen Reformators blieben nicht lange unangefochten, so dass Calvin bald um sein Leben fürchten musste. Der Kirchenhistoriker Philip Schaff schildert seine Flucht aus Paris:
»Nicholas Cop, der Sohn eines angesehenen Physikers (William Cop aus Basel) und Freund Calvins wurde am 10. Oktober 1533 zum Rektor der Universität gewählt. Er hielt die übliche Antrittsrede zu Allerheiligen am 1. November vor einer großen Versammlung der Mathurins-Kirche. Diese Rede, die man vom neuen Rektor erwartete, hatte Calvin ausgearbeitet. Sie war ein einziges Plädoyer für die Reformation auf der Basis des Neuen Testaments und stellte eine gewagte Attacke gegen die scholastischen Theologen seiner Zeit dar, vor Sophisten ohne die Kenntnis des Evangeliums. … Die Sorbonne und das Parlament stuften diese Rede als Kriegserklärung gegen die katholische Kirche ein und übergaben sie den Flammen. Cop wurde gewarnt und floh zu seinen Verwandten nach Basel (Man bot dreihundert Kronen für seine Ergreifung, tot oder lebendig). Calvin, der wahre Autor dieses Unheils, soll aus einem Fenster geflohen sein und als Weinhändler verkleidet entkommen sein. Die Polizei untersuchte seine Unterkunft und beschlagnahmte seine Schriften. … Vierundzwanzig unschuldige Protestanten wurden auf öffentlichen Plätzen der Stadt im Zeitraum vom 10 November 1534 bis zum 5. Mai 1535 bei lebendigem Leibe verbrannt. … Viele andere wurden mit einem Bußgeld belegt, andere gefangen genommen und gefoltert und eine beträchtliche Anzahl von ihnen, darunter Calvin und Du Tillet, flohen nach Strassburg. … Beinahe drei Jahre lang flüchtete Calvin als Evangelist unter verschiedenen Namen in den Süden Frankreichs, in die Schweiz und nach Italien, bevor er in Genf als seinem letzten Zufluchtsort ankam.«358358 Ebd., S. 322.
Kurz danach, wenn nicht sogar noch vorher, erschien die erste Ausgabe seiner Institutio. Im März 1536 überquerten Calvin und Louis Du Tillet die Alpen nach Italien, dem Ursprungsort der literarischen und künstlerischen Renaissance. Dort wirkte er als Evangelist, bis die Inquisition ihr zerstörerisches Werk begann, indem sie Renaissance und Reformation als zwei miteinander verwandte Schlangen geißelte. Er änderte daraufhin sein Ziel und reiste wohl durch das Aostatal über den Großen Bernhard in die Schweiz. Von Basel aus besuchte er noch einmal seine Heimatstadt Noyon, um seine Familienangelegenheiten zu bereinigen. Dann verließ er Frankreich für immer, in Begleitung seines Bruders Antoine und seiner Schwester Marie. Er hoffte, sich in Basel oder Strassburg niederlassen zu können und dort das ruhige Leben eines Gelehrten und Autoren führen zu können. Es war der Tatsache zu verdanken, dass zwischen Karl V. und Franz I. Krieg herrschte und so die Reiseroute durch Lothringen versperrt war, dass Genf das Ziel seiner Reise wurde.
Calvin wollte ursprünglich nur eine einzige Nacht in Genf verbringen, doch die Vorsehung beschloss es anders. Seine Anwesenheit wurde Farel, dem Genfer Reformator, hinterbracht. Der fühlte instinktiv, dass Calvin der Mann war, die Reformation in Genf abzuschließen. Schaff hat uns eine gute Beschreibung dieses Treffens hinterlassen:
»Farel sandte sofort nach Calvin und hielt ihn fest, als hätte er einen göttlichen Auftrag. Calvin protestierte dagegen und verwies auf seine Jugend, seine mangelnde Erfahrung und seinen Bedarf nach weiterem Studium; er brachte seine Furchtsamkeit und seine Schüchternheit in Anschlag, die ihm einem öffentlichen Amt abträglich zu sein schienen. Doch es war alles umsonst: Farel, ›der vor Eifer brannte, das Evangelium zu verbreiten‹, bedrohte ihn mit dem Fluch des allmächtigen Gottes, wenn er seinen Studienwunsch dem Werk des Herrn vorzog, wenn er sein eigenes Interesse der Sache Christi vorordnete. Calvin war von den Worten des furchtlosen Evangelisten zutiefst erschüttert und fühlte sich, ›als habe Gott selbst seine Hand nach ihm ausgestreckt‹. Er gab nach und nahm die Berufung als Lehrer und Pastor der evangelischen Kirche Genfs an.«359359 Ebd., S. 348.
Calvin war fünfundzwanzig Jahre jünger als Luther und Zwingli. Er hatte den großen Vorteil, auf dem Fundament der beiden aufbauen zu können. Die ersten zehn Jahre seiner Wirksamkeit fielen mit den letzten zehn Jahren der Wirksamkeit Luthers zusammen. Beide haben sich nie persönlich gesehen. Calvin war jedoch mit Melanchthon vertraut. Die beiden standen bis zum Tod Melanchthons in regem Briefverkehr. Als Calvin seine Wirksamkeit begann, war noch nicht klar, ob Luther der Held eines großen Erfolgs oder das Opfer eines großen Fehlers war. Luther hatte für viele neue Ideen gesorgt; Calvins Werk war es, diese Ideen in ein System zu bringen, zu bewahren und damit weiter zu entwickeln, was so ehrenvoll begonnen hatte. Es fehlte der protestantischen Bewegung an Einheit; sie stand in Gefahr, im Treibsand lehrmäßiger Dispute zu versinken und wurde vor diesem Schicksal hauptsächlich durch die neuen Impulse bewahrt, die vom Genfer Reformator ausgingen. Die katholische Kirche operierte dagegen als eine mächtige Einheit; sie suchte mit allen Mitteln, die protestantischen Gruppen auszurotten, die sich im Norden gebildet hatten. Zwingli erkannte die Gefahr und versuchte, die Protestanten gegen ihren gemeinsamen Feind zu vereinen. Zu Marburg bot er — nach vielen Bitten und mit Tränen in den Augen, ungeachtet des lehrmäßigen Unterschieds, der im Abendmahlsstreit herrschte — Luther die Freundeshand an, doch Luther lehnte sie aufgrund seines engen Gewissens ab. Calvin arbeitete in der Schweiz. Er sah die Geschlossenheit der römischen Kirche und die Notwendigkeit, die Protestanten zusammenzuhalten. Nach England schrieb er Cranmer:
»Ich sehne mich nach einem einzigen Abendmahl mit allen Christen. Wenn ich doch nur von einigem Nutzen sein könnte, ich überquerte voll Freude auch zehn Meere, um die Einheit der Christen zu befördern.«
Der Einfluss seiner Bücher, Briefe und Studenten wurde sehr bald schon in vielen Ländern deutlich gespürt; dass er die protestantische Bewegung vor dem Untergang gerettet habe, dürfte keine Übertreibung sein.
Dreißig Jahre lang verzehrte sich Calvin, die Reformation voranzutreiben. Reed schreibt:
»Er verlangte sich die letzten Kräfte ab und kämpfte wie nie zuvor. Ohne nachzugeben, litt er mit einer Tapferkeit, die bereit war, jeden Moment für dieses Ziel zu sterben. Ohne Zögern vergoss er buchstäblich einen Tropfen seines Lebens nach dem anderen, um dieses Ziel zu erreichen. Die Geschichte wird sich vergeblich nach einem Mann umsehen, der sich so vorbehaltlos und mit größerer Verbissenheit und Selbstaufgabe einer Sache geopfert hat wie Calvin für die Reformation im 16. Jahrhundert.«360360 Reed, Calvin Memorial Addresses, S. 34.
Vielleicht ist kein Diener Christi seit den Tagen der Apostel so viel geliebt und gehasst, bewundert und verabscheut, gepriesen und geschmäht, gesegnet und verflucht worden wie der treue, furchtlose und unsterbliche Calvin. Er lebte in einem feurig-streitsüchtigen Zeitalter; er war der Wachturm der reformierten Bewegung Westeuropas, von überall scharf beobachtet und von allen Winkeln aus angegriffen. Die Leidenschaften von Religion und Sektiererei sind die schärfsten überhaupt; da wir über Gut und Böse innerhalb der menschlichen Natur nur allzu gut Bescheid wissen, wird es uns nicht verwundern, wie Calvins Lehren und Schriften aufgenommen wurden.
Mit erst sechsundzwanzig Jahren veröffentlichte Calvin seinen Unterricht in der christlichen Religion in lateinischer Sprache. Die erste Ausgabe enthielt in kurzer Zusammenfassung schon alle wesentlichen Elemente seines Systems; wenn man seine Jugend bedenkt, war das eine unerhörte intellektuelle, frühreife Leistung. Später wuchs das Werk auf das fünffache an und wurde zuerst in Frankreich veröffentlicht. Es enthielt immer noch alle Lehren der ersten Auflage. Beinahe sofort avancierte das Werk zum Aushängeschild der protestantischen Verteidigung. Es gab andere Werke, die aber nur unzureichend waren; hier war eines, das die protestantische Bewegung als Ganze stützte.
»Der Wert dieses Werkes für die Reformation kann kaum überschätzt werden. Nicht nur Protestanten, sondern auch Katholiken gaben die Bedeutung dieses Werkes zu. Die einen priesen es als größte Wohltat, die anderen verwünschten es mit bittersten Flüchen. Es wurde im Auftrag der Sorbonne in Paris und andernorts verbrannt. Überall führte es zu heftigsten Streitereien in Wort und Schrift. Florimond de Raemond, ein römisch-katholischer Theologe, nannte es ›Koran, Talmud der Irrlehren und bedeutendster Grund des Abfalls.‹ Kampachulte, ein anderer Katholik, bezeugt, dass dieses Werk ›das allgemein zugängliche Arsenal darstellt, aus dem die Gegner der Alten Kirche ihre gefährlichsten Waffen holen‹, und dass ›kein Werk der Reformation von der römischen Kirche mehr gefürchtet, bekämpft und verfolgt worden ist als Calvins Istitutio‹. Sein Erfolg zeigte sich dadurch, dass rasch Auflage auf Auflage folgte. Bald war es in die meisten europäischen Sprachen übersetzt und wurde zur wichtigsten Lektüre in den Schulen der Reformierten Kirche. Der ,Unterricht in der Christlichen Religion‘ lieferte den Stoff zu den späteren Glaubensbekenntnissen.«361361 Ebd., S. 20.
»Von allem, was Calvin der Menschheit geschenkt hatte — und das war nicht wenig —, war das größte unzweifelhaft dieses Glaubenssystem, dem er mit seinem Genius Leben eingehaucht hatte.«362362 Benjamin Breckinridge Warfield (Artikel), The Theology of Calvin, S. 1.
Die Protestanten nahmen die Institutio enthusiastisch auf als die klarste, stärkste, logischste und überzeugendste Verteidigung der christlichen Lehren seit den Tagen der Apostel. Schaff beschreibt das Werk so:
»Calvin schuf damit eine systematische Darlegung des christlichen Glaubens im Allgemeinen und eine Rechtfertigung des evangelischen Glaubens im Besonderen. Es war auf das apologetische und praktische Ziel abgestellt, den Protestantismus gegen Verleumdung und Verfolgung zu schützen, denen dieser speziell in Frankreich ausgesetzt war.«363363 Philip Schaff, The Swiss Reformation, S. 330.
Das Werk ist durchdrungen von einer Ernsthaftigkeit und Furchtlosigkeit, dessen strenge Argumentation der menschlichen Vernunft und der Tradition strikt ihren Platz unter der höchsten Autorität der Heiligen Schrift anweist.
Es wird zugegeben, dass es das wichtigste Werk des Jahrhunderts darstellt; dieses Buch hatte immensen Einfluss in der Verbreitung des calvinistischen Gedankengutes. Albrecht Ritschl etwa nennt es das »Meisterstück protestantischer Theologie«. Dr. Warfield hat berichtet, dass
»es auch noch nach dreieinhalb Jahrhunderten seine Überlegenheit als großartigstes und einflussreichstes Werk aller dogmatischen Versuche darstellt. … Selbst unter literarischen Gesichtspunkten nimmt es einen solchen Rang ein, dass jeder, der sich über die besten Bücher der Welt informieren will, es wird lesen müssen. Was Thukydides unter den Griechen oder Gibbon im achtzehnten Jahrhundert für Historiker, was Platon unter den Philosophen, was die Illias unter den epischen Werken oder Shakespeare unter den Dramatikern, das ist Calvins Institutio unter den theologischen Werken.«364364 Warfield, Calvin and Calvinism, S. 8, 374.
Es bewirkte große Bestürzung innerhalb der römischen Kirche und wurde zur einigenden Macht unter den Protestanten. Es machte Calvin zum fähigsten Verteidiger des Protestantismus und zum außergewöhnlichsten Gegner, mit dem die Katholiken zu kämpfen hatten. In England erfreute sich eine unübertroffene Mehrheit der Institutio. Bald wurde sie zum Lehrbuch der Universitäten. Kaum später war sie schon in neun europäische Sprachen übersetzt, und es ist nur dem banalen Umstand geringer Beachtung unter den Historikern zuzuschreiben, dass seine Wichtigkeit in den letzten Jahren so hatte verkannt werden können.
Wenige Wochen nach der Veröffentlichung der Institutio schrieb Martin Bucer, der dritte unter den deutschen Reformatoren, an Calvin:
»Es ist vollkommen klar, dass der Herr Euch als sein Werkzeug gebrauchen will, seine Kirche mit dem reichsten Segen zu beschenken.«
Luther selbst verfasste keine systematische Theologie. Obgleich seine Werke sehr umfangreich waren, behandelten sie meist vereinzelte Themen, die vielfach auf praktische Probleme seiner Zeit abzielten. Es war Calvin überlassen, eine systematische Theologie des evangelischen Glaubens zu verfassen.
Zuallererst war Calvin ein Theologe. Er gilt neben Augustinus als einflussreichster Lehrer des christlichen Glaubens seit Paulus. Melanchthon, der Prinz der lutherischen Theologie, der nach dem Tod Luthers »Praeceptor Germanie« genannt wurde, nannte Calvin einfach »den Theologen«.
Wenn auch die Sprache der Institutio manchmal unsanft klingt, dann müssen wir uns erinnern, dass das das Markenzeichen, aber auch die Schwäche der damaligen theologischen Kontroverse war. Das Zeitalter Calvins war polemisch. Die Protestanten der damaligen Zeit hatten kein leichtes Leben; oft waren sie in tödliche Kämpfe mit Rom verstrickt; die Geduld wurde oft hart auf die Probe gestellt. Luther übertraf Calvin allerdings noch in seiner polternden Art, wie wir gleich anhand seines Hauptwerkes „Vom unfreien Willen“ sehen werden. Das Werk richtete sich in besonderer Weise gegen die Idee des Erasmus vom »freien Willen«. Es muss aber gesagt werden, dass kein Schrifttum jener Zeit so grob und beleidigend war wie die Exkommunikationsbeschlüsse und Bannflüche der römisch-katholischen Kirche, die diese gegen die Protestanten richtete.
Zusätzlich zu seinen Institutio verfasste Calvin Kommentare zu fast allen Büchern des Alten- und Neuen Testaments. Diese Kommentare umfassen in englischer Sprache fünfundfünfzig Großbände, die verglichen mit seinen anderen Werken geradezu erstaunlich sind. Die Qualität seiner Werke brachte ihnen bald den ersten Platz unter den exegetischen Schriften ein; unter allen älteren Kommentaren wird niemand von den heutigen Theologen so oft zitiert wie Calvin. Er war ohne allen Zweifel der bedeutendste Theologe der Reformation. War Luther der Fürst der Übersetzer, so Calvin der Fürst der Kommentatoren.
Man sollte sich daran erinnern, wenn man den wahren Wert der Kommentare Calvins schätzen will: sie fußten auf exegetischen Prinzipien, die zu seiner Zeit äußerst sparsam gesät waren. So sagt Reed:
»Er zeigte den Weg heraus aus der rein symbolischen Auslegung der Schrift, einer Methode, wie sie seit den frühesten Jahrhunderten des Christentums gebräuchlich war und wie sie von großen Namen, von Origenes bis hin zu Luther praktiziert worden war. Dieses Auslegungsprinzip machte aus der Bibel was immer man wollte; eine lebendige Phantasie war hier die wichtigste Eigenschaft für die Auslegung.«365365 Reed, Calvin Memorial Addresses, S. 22.
Calvin hielt sich strikt an die Gedanken des jeweiligen Autors der Schrift und nahm an, dass der Autor jeweils einen bestimmten Gedanken im Sinn hatte, den er in seiner jeweiligen Alltagssprache niederschrieb. Unbarmherzig entblößte er die verdorbenen Lehren und Praktiken der römisch-katholischen Kirche. Seine Schriften inspirierten seine reformierten Freunde und versorgten sie mit tödlicher Munition. Calvins fördernder und schützender Einfluss auf die Reformation kann kaum überschätzt werden.
Calvin war ein Meister der Patristik und der Scholastik. An den führenden Universitäten seiner Zeit gebildet, besaß er gründliche Kenntnis des Lateinischen und des Französischen und konnte leidlich altgriechisch und hebräisch. Seine grundlegenden Kommentare erschienen in französischer und lateinischer Sprache; sie waren von ausgesuchter Gründlichkeit, aufrichtig und voll Freimut; sie wiesen auf einen ausgewogenen und moderaten Autor hin. Genau wie Luthers Übersetzung die deutsche Sprache maßgeblich beeinflusst hatte, trugen auch Calvins Arbeiten zur Stabilisierung der damals noch auf etwas wackeligen Beinen stehenden französischen Sprache bei.
Wir dürfen auch ein anderes Zeugnis nicht vergessen, das des Arminius selbst, des Gründers des gegnerischen Lehrgebäudes. Ein solches Zeugnis ist ganz und gar unbefangen. Arminius sagte:
»Gleich nach dem Studium der Heiligen Schrift ermahne ich meine Schüler, die Kommentare Calvins zu studieren, die ich für noch höher einschätze als selbst Helmicks (Helmick war ein holländischer Theologe); ich behaupte, dass er ein Verständnis der Schrift besitzt wie kein anderer und dass seine Arbeiten wesentlich höher eingeschätzt werden müssen als alles, was wir aus der Bibliothek der Väter besitzen. Ich erkenne, dass er mehr als viele anderen, ja beinahe mehr als alle anderen die ausgezeichnete Gabe der Prophetie besitzt.«366366 Zitiert aus James Orr, Calvin Memorial Addresses, S. 92.
Der Einfluss Calvins ist auch noch auf die sehr umfangreiche Korrespondenz mit diversen Gemeindeleitern, Fürsten und Adeligen innerhalb des protestantischen Christentums zurückzuführen. Heute existieren etwa noch 300 Briefe aus dieser Zeit; es sind keine kurzen Briefe, sondern oft lange und sorgsam ausgearbeitete Abhandlungen, die in meisterlicher Weise seine verblüffenden Ansichten über Kirchenfragen und theologischen Fragen offenbarten. Dieser Umstand hat dazu beigetragen, dass er zum führenden Reformator Europas wurde.
Nachdem Calvin und Farel versucht hatten, ein zu strenges disziplinäres System in Genf zu etablieren, mussten die beiden die Stadt zwei Jahre nach dem Eintreffen Calvins für eine Zeitlang zu verlassen. Calvin ging nach Straßburg im südwestlichen Deutschland. Martin Bucer und die führenden Reformatoren Deutschlands nahmen ihn mit offenen Händen auf. Dort führte er die nächsten drei Jahre ein stilles Leben als Professor, Pastor und Autor und kam das erste Mal mit Luthers Werken in Kontakt. Er hatte großes Verständnis für die führenden Lutheraner und fühlte sich der Lutherischen Kirche aufs engste verbunden, obgleich ihn der Mangel an Disziplin und die Ergebenheit der Geistlichen gegenüber weltlichen Herrschern unangenehm beeindruckte. Später verfolgte er den Gang der Reformation in Deutschland mit großem Interesse, wie sein Briefwechsel und seine vielen Schriften zeigen. Während seiner Abwesenheit von Genf verschlimmerten sich die Zustände dort so sehr, dass die Früchte der Reformation in ernste Gefahr gerieten und eine Rückkehr nach Genf erforderlich schien. Nach vielem Drängen aus Genf folgte er diesem Ruf und setzte seine Arbeit da fort, wo er sie drei Jahre vorher liegen gelassen hatte.
Die Stadt selbst, am gleichnamigen See gelegen, wurde zur Heimat Calvins. Hier, an den nahegelegenen, schneebedeckten Alpen, verbrachte er von nun an die meiste Zeit seines Lebens, und von hier aus nahm auch die Reformation ihren Weg durch ganz Europa und nach Amerika. In kirchlichen und in staatlichen Angelegenheiten übte die verhältnismäßig kleine Schweiz großen Einfluss aus.
Calvins Einfluss in Genf gibt uns ein anschauliches Beispiel der verändernden Kraft seines Lehrgebäudes. Der bekannte Kirchenhistoriker Philip Schaff resümiert:
»Die Genfer waren ein beschwingtes, frohes Volk, verliebt in öffentliche Vergnügungen wie Tanz, Gesang, Maskeraden und allerlei Gelagen. Sorglosigkeit, Trunkenheit, Ehebruch, Lästerung und alle Arten von Lastern waren an der Tagesordnung. Die Prostitution wurde von staatlicher Seite genehmigt und von einer Frau geführt, die man „Reine de bordel“367367 Bordellkönigin (A. d. Ü.). nannte. Die Menschen befanden sich in großer Unwissenheit. Die Priester unternahmen keinerlei Anstrengung, die Leute zu belehren, sondern gaben ihnen vielmehr ein schlechtes Beispiel.«368368 Quelle nicht angegeben.
Ein Blick auf die damalige Geschichtsschreibung zeigt, dass kurz vor Calvins Ankunft in Genf selbst die Mönche und sogar die Bischöfe sich vieler Verbrechen schuldig gemacht hatten, die heutzutage mit der Todesstrafe geahndet werden.
Calvins Arbeit in Genf hatte Folgen: Bald rühmte man die Stadt wegen des stillen, ordentlichen Lebens ihrer Bürger mehr als sie vorher für ihre Untaten berüchtigt war. Unter tausend anderen saß auch John Knox als bewundernder Schüler zu Calvins Füßen und fand dort das, was er »die vollkommenste Schule Christi, die seit den Tagen der Apostel auf Erden zustande gekommen ist« nannte. Dank Calvins Arbeit wurde Genf zum Zufluchtsort vieler Verfolgter und zum Ausbildungsstandort des reformierten Glaubens. Flüchtlinge aus allen Ländern Europas strömten herzu und trugen nachmals die klaren Lehren der Reformation nach Hause. Genf war das Zentrum ausstrahlen- der geistlicher Kraft und Ausbildung; es diente den umliegenden Ländern als Führer und Lehrer. So sagt Bancroft:
»Der Menschheit wohlgesonnener als Solon und mit größerer Selbstverleugnung, als sie einem Lykurg eignete, verströmte der Genius Calvins bleibende Elemente innerhalb Genfs und machte diese Stadt zur unangreifbaren Festung öffentlicher Freiheit — die fruchtbare Saat der Demokratie.«369369 Bancroft, Miscellanies, S. 406.
Ein Zeugnis der Wirksamkeit des Einflusses, den Genf besaß, findet sich in einem Brief des Katholiken Francois de Sales an den Herzog von Savoy, der darin die Notwendigkeit äußerte, Genf als Hauptquelle aller Häresien gegen die römische Kirche auszuschalten:
»Die Herätiker fliehen alle nach Genf, dem Zufluchtsort ihrer Religion. … Es gibt keine andere Stadt in Europa, die der Irrlehre mehr Gelegenheit gibt, sich zu vergrößern. Diese Stadt ist die Pforte Frankreichs, Italiens und Deutschlands; Menschen aller Nationen finden sich dort: Italiener, Franzosen, Deutsche, Polen, Spanier, Engländer und Menschen aus noch ferner gelegenen Ländern. Man weiß, wie viele ›Geistliche‹ dort herangezüchtet werden. Letztes Jahr sandte man zwanzig davon nach Frankreich. Sogar England bezieht seine Pfarrer jetzt schon aus Genf. Was soll ich über die prachtvollen Druckanstalten sagen, mittels deren Genf die umliegende Welt mit all seinem gottlosen Zeug überflutet, und das noch zu Preisen, die sich das gewöhnliche Volk leisten kann? … Alles, was gegen das Heilige Meer und die katholischen Fürsten unternommen wird, nimmt seinen Anfang in Genf. Keine andere Stadt Europas nimmt so viele Abgefallene aller Disziplinen auf. Daher schließe ich: die Vernichtung dieser Stadt wird den Häresien ein gründliches Ende bereiten.«370370 Vie de ste. Francois de Sales, par son neveu, S. 20.
Ein anderes Zeugnis stammt von einem der bittersten Feinde des Protestantismus, von Philip II. von Spanien. Er schrieb an den König Frankreichs:
»Diese Stadt ist die Quelle allen Unheils für Frankreich, der gefährlichste Feind Roms. Ich werde jederzeit und mit aller Macht zur Verfügung stehen, diese Stadt zu stürzen.«371371 Quelle nicht angegeben.
Als der Herzog von Alva mit seiner Armee an Genf vorbeizog, bat ihn Papst Pius V., einen Abstecher dorthin zu machen und »dieses Nest von Abtrünnigen und Teufeln zu zerstören.«
Die berühme Akademie von Genf öffnete ihre Tore im Jahr 1559. Zusammen mit Calvin lehrten dort zehn fähige und erfahrene Professoren Grammatik, Logik, Mathematik, Physik, Musik und antike Sprachen. Die Akademie war bemerkenswert erfolgreich. Schon im ersten Jahr meldeten sich neunhundert Studenten an, meist Flüchtlinge aus den verschiedensten Ländern Europas, und fast genauso viele besuchten ihre theologischen Vorlesungen, um sich auf einen Dienst als Evangelist oder als Lehrer im eigenen Land vorzubereiten und dort eine Kirche nach dem Muster Genfs zu gründen. Mehr als zweihundert Jahre lang blieb die Akademie in Genf die wichtigste Lehranstalt reformierter Theologie und literarischer Kultur.
Calvin war der erste, der eine strikte Trennung zwischen Kirche und Staat forderte. Diese Forderung war von unschätzbarem Wert. Die Reformation in Deutschland wurde von den Fürsten bestimmt; die Reformation in der Schweiz vom Volk, doch in beiden Fällen existierte ein gutes Auskommen zwischen den Fürsten und der Mehrheit des Volkes. Die Schweizer Reformatoren, die in Genf lebten, erarbeiteten eine freie Kirche in einem freien Land, während Luther und Melanchthon mit ihrer natürlichen Verehrung der Monarchie und des deutschen Imperiums passiven Gehorsam in politischen Fragen anordneten und somit die Kirche der staatlichen Macht unterordneten.
Calvin starb 1564 im frühen Alter von fünfundfünfzig Jahren. Beza, sein enger Freund und Nachfolger, beschreibt seinen Tod als ein friedliches Entschlafen:
»Mit Sonnenuntergang wurde dieses hell scheinende Licht der Kirche in den Himmel gerufen. Am darauf folgenden Tag war die Trauer und Bestürzung sehr groß; die ganze Republik betrauerte ihren weisesten Bürger, die Kirche ihren vertrauten Hirten und die Akademie ihren unvergleichlichen Lehrer.«372372 Quelle nicht angegeben.
Schaff beschreibt Calvin als
»einen jener Menschen, die eher Respekt und Bewunderung als Zuneigung bewirkten; engere Bekanntschaft ließ er gerne zu, familiäre Vertrautheit dagegen nicht. Je besser man ihn kennt, desto mehr muss man ihn schätzen und bewundern.«
Über seinen Tod sagt Schaff:
»Calvin hatte ausdrücklich jeden Pomp an seinem Begräbnis verboten, auch, dass man ihm über seinem Grab ein Denkmal setzt. Er wollte wie Mose abseits jeglicher Möglichkeit abgöttischer Verehrung begraben werden. Dies passte zu seiner Theologie, die den Menschen bescheiden hielt und Gott erhöhte.«373373 Schaff, The Swiss Reformation, S. 826.
Die genaue Stelle seines Grabes in Genf ist nicht bekannt. Ein einfacher Stein mit den Initialen »J. C.« zeigt dem Fremden, wo sich seine letzte Ruhestätte befindet, doch man weiß nicht mehr, auf wessen Initiative hin dieser Stein dorthin gesetzt worden ist, wo er heute steht. Er selbst verbat sich jedes Denkmal auf seinem Grab. Sein wahres Denkmal ist nach S. L. Morris
»jede republikanische Regierung auf der ganzen Erde, das öffentliche Schulsystem aller Nationen und ›die Reformierten Kirchen auf der ganzen Welt, die das presbyterianische System unterhalten.‹«374374 Quelle nicht angegeben.
Nun müssen wir uns einem Ereignis zuwenden, das einen großen Schatten auf diesen sonst so aufrechten Namen geworfen hat und welches ihm den Ruf der Intoleranz und Verfolgungswut eingebracht hat. Ich meine damit den Tod des Michael Servet, der sich während des Wirkens Calvins in Genf ereignete. Dass dieser Tod ein Fehler war, wird allgemein zugegeben. Die Geschichte kennt nur eine einzige Person, die ohne Fehler war — den Retter der Sünder. Alle anderen Menschen haben das Zeichen der Schwäche an sich, das es verbietet, sie zu verehren.
Calvin ist allerdings oft zu hart angegriffen worden, so als ob es seiner Verantwortung allein zuzuschreiben sei, dass Servet nach einer zweimonatigen Gerichtsverhandlung von der gesamten Gerichtsbarkeit nach den geltenden Gesetzen der damaligen Christenheit verurteilt wurde. Weit davon entfernt, dass das Urteil in dieser Härte vollstreckt werden sollte, forderte Calvin anstelle des Feuers das Schwert, doch er wurde überstimmt. Calvin und die Männer seiner Zeit dürfen nicht einfach allein nach den fortschrittlichen Normen des zwanzigsten Jahrhunderts beurteilt werden, sondern müssen zu einem gewissen Teil im Lichte des sechzehnten Jahrhunderts gesehen werden. Wir haben im zivilen Bereich, aber auch in Bezug auf religiöse Toleranz seither große Entwicklungen erlebt. Das betrifft auch die Gefängnisreform, die Abschaffung der Sklaverei und des Sklavenhandels, des Feudalismus, der Hexenverbrennungen und die Verbesserung der Bedingungen der Armen, die zwar erst späte Errungenschaften sind, jedoch auf das Christentum zurückzuführen sind. Die Fehler derer, die verteidigt und praktiziert haben, was heutzutage als intolerant kritisiert wird, waren die Fehler des ganzen damaligen Zeitalters. Der Fairness halber sollte man dem unvorteilhaften Eindruck ihres Charakters und ihrer Beweggründe nicht folgen; noch weniger aber sollte man sich ein Vorurteil gegen ihren Lehren über andere und wichtigere Themen erlauben.
Die Protestanten hatten in ihrem Verteidigungskampf das römische Joch abgeschüttelt. Intoleranz begegnete man oft mit Intoleranz. Die öffentliche Meinung des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts war der Ansicht, die Regierung verfüge über das Recht, die Orthodoxie zu verteidigen und zu unterstützen und Häresien zu bestrafen. Man war davon überzeugt, dass hartnäckige Ketzer und Gotteslästerer nötigenfalls auch durch die Todesstrafe unschädlich gemacht werden müssen. Die Protestanten unterschieden sich diesbezüglich von Rom nur in ihrer Abweichung der Definition von Irrlehre und in einem wesentlich milderen Strafsystem. Ketzerei hielt man als eine Sünde gegen die Gesellschaft, die manchmal schlimmer zählte als Mord, denn während der Mörder nur den Körper zerstörte, konnte eine Irrlehre auch die Seele zu Fall bringen. Heutigentags verfolgen wir das andere Extrem: Die öffentliche Meinung ist bezüglich Wahrheit und Irrtum recht »weitherzig« geworden.375375 Die Toleranz der Moderne tolerierte die Person und verteidigte ihr Recht auf öffentliche Meinungsäußerung, selbst im Fall konträrster Ansichten; die Postmoderne hat dieses Prinzip zugunsten eines relativistischen Wahrheitsbreis verkehrt: Hier toleriert man jede »Wahrheit«, nicht aber, dass jemand gegen eine solche »Wahrheit« opponiert (A. d. Ü.). Im achtzehnten Jahrhundert kam stärkere Toleranz auf. England und Holland übernahmen in Sachen öffentlicher Freiheit die Führung; die Verfassung der Vereinigten Staaten erledigte den Rest, indem sie alle christlichen Denominationen vor dem Gesetz gleichstellte und ihnen auch gleiche Rechte einräumte.
Alle führenden Reformatoren seiner Zeit stimmten Calvins Vorgehen in Bezug auf Michael Servet zu. Melanchthon, der führende Theologe der Lutherischen Kirche, rechtfertigte das Vorgehen Calvins und des Rates zu Genf wiederholt und lobte diese Vorgehensweise als modellhaft. Ein Jahr nach Servets Tod schrieb er an Calvin:
»Ich habe Euer Buch gelesen, in dem Ihr aus tiefstem Herzen die ekelhaften Lästerungen Servets widerlegt habt. … Die Kirche schuldet euch großen Dank — dies wird sie Euch bis in die späteste Nachwelt schulden. Ich bin voll und ganz Eurer Meinung. Ich stimme auch Eurem Untersuchungsrichter zu: die Strafe ist diesem Manne nach der ordnungsgemäßen Untersuchung zurecht widerfahren.«376376 Quelle nicht angegeben.
Martin Bucer, der an dritter Stelle unter den deutschen Reformatoren rangiert, dann Bullinger, ein enger Freund und würdiger Nachfolger Zwinglis, aber auch Farel und Beza in der Schweiz unterstützten Calvin. Luther und Zwingli waren bereits gestorben; man kann fragen, ob sie der Exekution Servets wohl zugestimmt hätten? Jedenfalls haben Luther und die Wittenberger Theologen der Todesstrafe gegen einige Wiedertäufer in Deutschland zugestimmt — sie sahen in ihnen gefährliche Irrlehrer; — wohl hätten sie die Grausamkeit der Strafe erkannt, doch sie zogen diese Grausamkeit jener vor, den Dienst am Wort samt dem Königreich der Welt zu zerstören. Zwingli hatte gegen die Todesstrafe gegen eine Gruppe von sechs Wiedertäufern in der Schweiz nichts einzuwenden gehabt. Die öffentliche Meinung hat seither eine große Wendung erfahren — die Exekution Servets, die von den besten Männern des sechzehnten Jahrhunderts begrüßt worden war, wurde im neunzehnten Jahrhundert verdammt.
Wie ich vorher erwähnt habe, war die katholische Kirche jener Zeit vollkommen intolerant gegen die protestantische Welt. Die Protestanten waren gezwungen, diesem Beispiel in gewissen Ausmaß und zum Zweck ihrer Verteidigung zu folgen. Zu den katholischen Verfolgungen schreibt Philip Schaff:
»Wir brauchen uns nur der Verfolgungen der Albigenser und Waldenser erinnern, die von Innocent III. angeordnet worden waren, eines der besten und größten Päpste, an die Folterungen und autos-da-fè der spanischen Inquisition, die mit religiösen Festivitäten einhergingen — mehr als fünfzigtausend Protestanten wurden allein während der Regierungszeit des Herzogs von Alva in den Niederlanden 1567-1573 ermordet. Viele hundert Märtyrer wurden in Smithfield unter der Regierung der ,Bloody Mary‘ verbrannt; erinnern wir uns an die wiederholten Massenverurteilungen der unschuldigen Waldenser in Frankreich und am Piemont, die nach Vergeltung zum Himmel schreien. Man wird die Verantwortlichkeit dieser Massaker wohl vergeblich der Regierung in die Schuhe schieben dürfen. Papst Gregor XIII. gedachte der Massaker zu St. Batrholomä nicht nur mit einem Te Deum in den Kirchen Roms, sondern ganz freimütig und wiederholt mit einer Medaille, die ›Die Schlachtung der Hugenotten‹ durch einen Engel des Zorns zeigt.«
Er fügt hinzu:
»Die römische Kirche hat ihre Macht und zum großen Teil auch ihre Neigung verloren, mit Feuer und Schwert zu verfolgen. Einige ihrer höchsten Würdenträger lehnen das Prinzip der Verfolgung strikt ab, speziell in Amerika, wo sie sich der Wohltat der Religionsfreiheit erfreuen können. Doch die römische Kurie hat offiziell ihre Theorie niemals aufgegeben, auf der die Praxis der Verfolgungen basiert. Ganz im Gegenteil haben viele Päpste seit der Reformation ihren Standpunkt bestätigt. … In einem Anhang zu seiner Enzyklika von 1864 verdammt Papst Pius IX ausdrücklich jegliche religiöse Toleranz und Freiheit.377377 Gemeint ist die Enzyklika Quanta Cura und dessen Anhang Syllabus Errorum, in welchem sich Pius IX im Besonderen gegen die Demokratie des 19. Jahrhunderts als Weltanschauung wendet. Es handelt sich bei jenem Syllabus um eine Liste von 80 Ansichten, die Papst Pius IX als Irrlehre verdammt (A. d. Ü.). Im Vaticanum I. wurde dieser Papst offiziell für unfehlbar erklärt und mit ihm alle seine Vorgänger (selbst der verbohrte Honorius I.) samt Nachfolgern auf dem Stuhle Petri.«378378 Philip Schaff, History of the Swiss Reformation, S. 669, 698.
Woanders sagt Dr . Schaff:
»Wenn Katholiken Calvin verurteilten, dann deshalb, weil sie ihn hassten, und sie verurteilten ihn gerade dafür, weil er in diesem Punkt wie sie selbst gehandelt hatte.«379379 Quelle nicht angegeben.
Servet war Spanier und Gegner des Christentums, egal ob in römisch-katholischer oder protestantischer Form. Schaff bezeichnet ihn als
»rastlosen Fanatiker, pantheistischen Pseudo-Reformator, der dreisteste und auch gotteslästerlichste Irrlehrer des sechzehnten Jahrhunderts.«380380 Philip Schaff, The Creeds of Christendom, Bd. 1., S. 464.
Schaff weist auch darauf hin, dass Servet ein
»stolzer Abweichler war, streit- und rachsüchtig und respektlos in seiner Sprache, hinterlistig und verlogen. Servet warf das schimpfliche Papsttum und die Reformatoren in denselben Topf.«381381 Philip Schaff, The Swiss Reformation, Bd. 2., S. 787.
Bullinger sagte, selbst wenn Satan aus der Hölle käme, könnte er die Dreieinigkeit nicht gotteslästerlicher beschimpfen als der Spanier. Der Katholik Bolsec nennt Servet in einer Arbeit über Calvin einen
»sehr arroganten und unverschämten Menschen. … ein monströser Irrlehrer«,
der den Tod verdient habe.
Servet floh aus Vienne in Frankreich nach Genf. Noch während der Prozess gegen ihn in Gange war, erhielt der Rat eine Nachricht aus Vienne: Die katholischen Richter übersandten ihm eine Kopie des unterzeichneten Todesurteils, das Servet sich schon dort zugezogen hatte, und baten den Rat, ihnen Servet wieder auszuliefern, damit sie das Todesurteil an ihm vollstrecken könnten, wie sie es in effigie und an seinen Büchern schon vollzogen hatten. Der Rat lehnte das Ansuchen zwar ab, versprach jedoch, der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Servet zog es vor, in Genf vor Gericht gestellt zu werden, da er in Vienne nur den Scheiterhaufen zu erwarten hatte. Vielleicht hatte die Nachricht aus Vienne den Rat die Orthodoxie noch eifernder verfechten machen: Man wollte in dieser Hinsicht der römischen Kirche in nichts nachstehen.
Bevor Servet nach Genf ging, hatte er Calvin durch eine Reihe von Briefen auf sich aufmerksam gemacht. Eine Zeitlang antwortete Calvin diesen Briefen auch recht ausführlich, doch als er sah, dass seine Ermahnungen nicht zum beabsichtigten Ziel führten, stellte er die Korrespondenz ein. Servet richtete seine Briefe indessen weiter an Calvin, allerdings wurden seine Schreiben immer arroganter und manchmal auch beleidigend. Er bezeichnete Calvin als den Papst des Protestantismus, den zu bekehren oder zu stürzen er sich berufen sah. Zu der Zeit, als Servet nach Genf kam, war die Partei der Libertinisten an der Regierung. Die Libertinisten standen in Opposition zu Calvin. Servet plante, der Partei beizutreten und Calvin mit ihrer Hilfe zu vertreiben. Calvin spürte die Gefahr, die ihm da drohte, war aber nicht geneigt, Servet seine Irrtümer verbreiten zu lassen. Er erachtete es als seine Pflicht, einen so gefährlichen Mann unschädlich zu machen und beschloss, ihn zum Widerruf zu bringen oder ihn der gerechten Strafe zuzuführen. Servet wurde eingesperrt und vor Gericht gestellt. Calvin übernahm den theologischen Teil des Prozesses; Servet wurde der Verbreitung fundamentaler Irrlehren und der Gotteslästerung überführt. Während des langen Gerichtsprozesses steigerte sich Servets Stolz noch und er begann, Calvin mit primitivsten Mitteln des Missbrauchs zu zeihen.382382 Ebd., S. 778. Die Richter verurteilten Servet zum Tod durch Feuer. Calvin plädierte vergeblich, die Strafe anstelle des Feuers durch das Schwert zu vollstrecken; die Verantwortung für die Todesart liegt daher allein auf dem Rat.
Dr. Emile Doumergue, der Autor von „Jean Calvin“, dem ausführlichsten und wichtigsten Werk über Johannes Calvin, das je publiziert wurde, sagt über den Tod Servets folgendes:
»Calvin ließ Servet bei dessen Ankunft in Genf verhaften und trat als Ankläger gegen ihn auf. Er wollte zwar, dass Servet zum Tod verurteilt wird, wenn er auch nicht den Feuertod wollte. Am 20. August 1553 schrieb Calvin an Farel: ›Ich hoffe, dass Servet zum Tode verurteilt wird, doch möchte ich ihm gerne die Todesqualen ersparen.‹ — Damit meinte er das Feuer. Farel antwortete ihm am 8. September: ›Deine Milde teile ich nicht gerne.‹ Er warnte Calvin vor zuviel Nachsichtigkeit: ›Darin, dass du Servet diese Grausamkeit ersparen möchtest, erweist du dich ihm gegenüber als Freund, der doch dein größter Feind ist. Ich ermahne dich aber, zu bedenken, dass in Zukunft niemand mehr die Frechheit besitzen soll, solche Irrlehren zu verbreiten und bei Straffreiheit solche Mühe darauf verwenden kann, wie dieser Mann es getan hat.‹ … Calvin änderte auf diesen Brief Farels zwar seine Meinung nicht, konnte das Urteil aber dennoch nicht verhindern. Am 26. Oktober schrieb er an Farel: ›Morgen wird Servet hingerichtet. Wir haben vergeblich unser Bestes getan, das Urteil abzumildern. Wenn wir uns das nächste mal treffen, erzähle ich dir, weshalb wir keinen Erfolg hatten.‹«383383 Opera, XIV, S. 590, 613-657.
»Der Tadel, der Calvin zumeist trifft — Servet verbrannt zu haben — trifft ihn zu zu Unrecht, da er gerade gegen eine Verbrennung Servets gewesen war. Er tat, was er konnte, Servet den Scheiterhaufen zu ersparen. Welch Schimpf und Schande hat der Tod Servets Calvin aber eingebracht! Tatsache ist, dass man von der Hinrichtung Servets, wäre sie ohne Feuer geschehen, wohl kaum solche Notiz genommen hätte.«
Doumergue berichtet weiters, dass der Tod Servets
»der Fehler seiner Zeit war, ein Fehler, an dem Calvin keinen Anteil hatte. Die Todesstrafe selbst wurde erst aufgrund des Urteils der Schweizer Kirchen ausgesprochen, darunter einige waren, die Calvin ganz und gar nicht gut gesinnt waren (obgleich sie sich in dieser Sache einig waren). … Darüber hinaus stammte das Urteil von einem Rat von Männern, deren Mehrzahl Freidenker und erklärte Feinde Calvins waren.«384384 Doumergue, Article, What Ought to be Known About Calvin?, Evangelical Quarterly, Jan. 1929.
Dass Calvin jede Verantwortung zurückwies, ist aus seinen späteren Schriften ersichtlich.
»Wie alle ehrbaren Männer zugeben werden, habe ich seit der Überführung Servets, Irrlehren zu verbreiten, kein einziges Wort über seine Strafe gesagt«,
schrieb er einmal.385385 Opera, VIII., p. 461.
In einer späteren Antwort gegen einen Angriff auf ihn erklärte er:
»Ich bin sehr besorgt, wegen meiner Grausamkeit angeklagt zu werden. Den Grund dafür kenne ich nicht, doch meine ich, es ist wegen des Todes eures großen Meisters, Servets. Doch dass ich selbst mich dafür eingesetzt habe, dass Servet ein solcher Tod erspart werde, dessen sind die Richter Zeugen. Darunter befinden sich derzeit auch zwei erklärte Freunde und Verteidiger Servets.«386386 Calvin‘s Calvinism, S. 346.
Vor der Verhaftung Servets und während der Frühphase des Prozesses sprach sich Calvin noch für die Todesstrafe aus; hauptsächlich begründete er diese Ansicht auf das mosaische Gesetz, das da lautet: »Wer des HERRN Namen lästert, der soll des Todes sterben« (3 Mo 24,16). Calvin war der Ansicht, dieses Gebot sei so bindend wie der Dekalog selbst und auch im Falle der Lästerung zu befolgen. Er überließ das Urteil jedoch ganz dem Rat. Dieser hielt Servet für den größten Feind der Reformation und hielt es für Recht und Pflicht des Staates, jedermann zu bestrafen, der dermaßen gegen die Kirche vorging. Er fühlte sich verantwortlich, die Kirche von aller Korruption zu reinigen, und bis zum Tag von Servets Tod änderte er weder seine Meinung, noch bedauerte der Rat sein Urteil gegen Servet.
Dr. Abraham Kuyper, holländischer Staatsmann und Theologe, äußerte vor einigen Jahren vor einem amerikanischen Publikum ein paar Gedanken, die der Erwähnung wert sind:
»Die Pflicht der Regierung, jede Form von falschem Glauben und Götzendienst auszurotten, war keine calvinistische Idee, sondern datiert sich zurück auf ein Urteil Konstantins des Großen. Sie verstand sich als Reaktion auf die grausamen Verfolgungen seiner Vorgänger auf dem Kaiserthron, die diese gegen die Sekte des Nazareners angestiftet hatten. Seit diesen Tagen ist diese Ansicht von allen römisch-katholischen Theologen verteidigt und von allen christlichen Fürsten befolgt worden. Zu Zeiten Luthers und Calvins war man allgemein davon überzeugt, dass dies die richtige Vorgehensweise sei. Jeder renommierte Theologie jener Zeit — allen voran Melanchthon — befürwortete den Feuertod Servets; das Schafott etwa, das die Lutheraner für Kreel, einen Vollblut-Calvinisten, aufgerichtet hatten, ist vom protestantischen Standpunkt weit verwerflicher. … Während zur Zeit der Reformation die Calvinisten zu Zehntausenden ihr Leben am Schafott und am Scheiterhaufen lassen mussten (der Lutheraner und Katholiken waren es so wenige, dass sie im Vergleich dazu kaum zu erwähnen sind), hat sich die Geschichtsschreibung einer kapitalen Ungerechtigkeit schuldig gemacht, jenen einen Feuertod des Servet als crimen nefandum387387 Abscheuliches Verbrechen (A. d. Ü.). hinzustellen. … Ich bedaure nichtsdestotrotz jenen einen Fall nicht nur, sondern missbillige ihn unbedingt, aber nicht etwa als Aus- druck calvinistischer Vorgehensweise, sondern im Gegenteil als schreckliche Nachwirkung eines Systems aus einer grauen Zeit, die der Calvinismus so vorgefunden hatte, in der er groß geworden ist und von der er sich nicht ganz hat lösen können.388388 Abraham Kuyper, Lectures on Calvinism, S. 129.
Wenn wir diesen Fall also im Lichte des sechzehnten Jahrhunderts betrachten, jeden Aspekt für sich, etwa die Zustimmung der anderen Reformatoren, aber auch die allgemeine Zustimmung der Öffentlichkeit, die jede Toleranz auch gegenüber religiösem Indifferentismus verabscheute und die die Todesstrafe für hartnäckige Häretiker und Gotteslästerer forderte, den Aspekt, dass auch die römisch-katholischen Autoritäten der Vorgehensweise im Falle Servet zustimmten, dann aber auch den Charakter und die Haltung Servets gegenüber Calvin, seine Absicht, nach Genf zu ziehen, um dort für Unruhe zu sorgen, das Urteil der Todesstrafe, ausgesprochen von einem Rat, der nicht Calvins Kontrolle unterstand und Calvins Plädoyer für eine mildere Strafe —, wenn wir diesen Fall also wie gesagt im Licht dieses sechzehnten Jahrhunderts betrachten, so kommen wir zum Schluss, dass Calvin, sofern er für jenes Ereignis verantwortlich ist, aus reinem Pflichtgefühl gehandelt hat und dass seine Verantwortlichkeit weit geringer ist, als man gemeinhin annimmt. Darüber hinaus sind wir froh, sagen zu können, dass dieser Vorfall nicht nur der einzige ist, sondern auch der einzige Vorfall dieser Art, der mit Calvin in Verbindung gebracht wird.
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