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5) Das Prinzip der Stellvertretung

Wir kennen die Idee der Stellvertretung sehr gut. In einem Land mit einem brauchbaren Präsidenten handelt das Volk durch seine Repräsentanten in der Legislative und kommt in den Genuss seiner Früchte. Ein schlechter Präsident verursacht schlimme Konsequenzen. Eltern sind für die Kinder verantwortlich und bestimmen zu einem großen Ausmaß ihr Schicksal. Sind die Eltern weise, tugendhaft und sparsam, dann ernten die Kinder den Segen; sind sie dagegen faul und unmoralisch, dann müssen die Kinder darunter leiden. Das Wohlergehen Einzelner ist in tausenden Fällen von den Handlungen anderer Menschen abhängig; dieses Prinzip illustriert die Verflochtenheit des menschlichen Lebens. Die biblische Lehre, dass Adam stellvertretend für die ganze Menschheit steht, ist eine Anwendung jenes Prinzips, das wir jeden Tag beobachten können.

Dr . Charles Hodge hat diesen Umstand im folgenden Abschnitt sehr geschickt formuliert:

»Das Prinzip der Stellvertretung durchzieht die ganze Heilige Schrift. Die Anrechnung der Sünde Adams auf seine Nachwelt ist kein singuläres Ereignis. Es ist nur eine Illustration eines allgemeinen Prinzips, welches das Rechtsverhalten Gottes von Beginn an zeigt. Gott erklärt Mose, dass er die Schuld der Väter an den Kindern und den Kindeskindern bis ins dritte und vierte Geschlecht heimsucht (2 Mo 34,6f.).  … Der Fluch, der Kanaan [den Namensgeber; A. d. Ü.] traf, traf seine Nachkommenschaft. Mit dem Verkauf seines Erstgeburtsrechtes schloss Esau seine Nachkommenschaft vom Bund der Verheißungen aus. Die Kinder Moabs und Ammons wurden für alle Ewigkeit von der Versammlung des Herrn ausgeschlossen, weil ihre Vorfahren die Israeliten am Durchzug nach Ägypten hindern wollten. Sowohl ihre Frauen als auch ihre Kinder mussten sterben, weil Dathan und Abiram (und auch Achan) gesündigt hatten. Gott teilte Eli mit, dass die Sünde seines Hauses niemals und durch kein Opfer mehr ausgetilgt werden könne. David wurde mitgeteilt: ‚Das Schwert wird nicht mehr von deinem Hause weichen, weil du mich verachtet hast, indem du die Frau Urias des Hethiters zu deiner eigenen gemacht hast.‘ Dem ungehorsamen Gehasi wurde gesagt: ‚Der Aussatz Naemans soll für immer an dir und deinen Kindern haften.‘ Die Sünde Jerobeams und seiner Generation bestimmte das Schicksal der zehn Stämme für alle Zeiten. Die Selbstverwünschung der Juden, als sie die Kreuzigung Christi gefordert hatten, wirkt sich immer noch auf das zerstreute Volk aus.  … Dieses Prinzip zieht sich durch die ganze Schrift. Der Bund Gottes mit Abraham war nicht auf ihn beschränkt, sondern meinte auch seine Nachkommenschaft. Sie war an all die Bedingungen des Bundes geknüpft. Sie genossen die Versprechen und empfingen die Drohungen, und in hunderten von Fällen traf die Strafe für Ungehorsam auch jene, die persönlich nicht ungehorsam waren. Die Kinder mussten in den Strafgerichten genauso leiden, war es nun Hungersnot, Pest oder Krieg, mit dem ihre Sünden bestraft wurden.  … Die Juden leiden heute immer noch unter der Strafe für die Ablehnung dessen, von dem Mose und die Propheten gesprochen hatten. Der ganze Heilsplan beruht auf diesem Prinzip. Christus ist der Repräsentant seines Volkes; auf dieser Basis wurde alle Schuld ihm angerechnet und seine Gerechtigkeit dem Volk.  … Niemand, der an die Bibel glaubt, kann seine Augen vor der Tatsache verschließen, dass sie an jeder Stelle die Idee der Stellvertretung der Eltern gegenüber ihren Kindern lehrt und dass das Rechtshandeln Gottes von Beginn an auf der Basis beruht, dass Kinder unter den Sünden ihrer Väter zu leiden haben. Das ist einer der Gründe, weshalb Ungläubige den göttlichen Ursprung der Heiligen Schrift leugnen. Aber Unglaube beweist nicht das Gegenteil, denn die Geschichte lehrt uns das Gleiche. Die Bestrafung des Verbrechers zieht immer auch seine Familie in Mitleidenschaft und Elend. Der Verschwender und Trinker zieht alle in sein Elend hinein, die mit ihm verbunden sind. Es gibt keine Nation auf Erden, deren Wohl oder Wehe nicht zum großen Teil vom Charakter und Verhalten ihrer Vorfahren abhängt.  … Die Idee der Schuldübertragung oder der stellvertretenden Strafe liegt allen Opfern im Alten Testament zugrunde, und ebenso dem großen Sühnopfer des Neuen Testaments. Sünden zu tragen bedeutet in biblischer Sprache immer auch die Strafe für Sünde tragen zu müssen. Das Opfer übernahm die Sünden des Opfernden. Bevor das Opfer geschlachtet wurde, wurde dem Opfertier die Hand auf den Kopf gelegt, um die Schuldübertragung zu symbolisieren. Das Tier selbst musste fehlerlos sein, damit klar zutage trat: Sein Blut wird nicht wegen eigener Mängel vergossen, sondern aufgrund der Sünde eines anderen (des Menschen). All das war Symbol und Typus.  … Das ist es, was die Schrift über das Opfer Christi lehrt. Er hat unsere Sünden getragen, er wurde für uns zum Fluch, er erlitt die Strafe des Gesetzes an unserer Stelle. All das ist nur möglich, wenn es möglich ist, die Sünde des einen auf einen anderen gerechterweise zu übertragen.«6969     Charles Hodge, Systematic Theology, Bd. 2, S. 198, 199, 201.

Die Bibel sagt uns, dass »durch des einen Ungerechtigkeit die Vielen zu Sündern wurden« (Röm 5,19). »Durch einen Menschen ist die Sünde in die Welt gekommen, und damit auch der Tod; und so ist der Tod zu allen Menschen gekommen [=sind alle gestorben; A. d. Ü.], denn es haben auch alle gesündigt« (Röm 5,12). »Durch die Übertretung eines Menschen ist die Verurteilung über alle gekommen« (Röm 5,18). Es ist, als hätte Gott gesagt: Wenn die Sünde in die Welt kommt, dann durch einen Mann, so dass auch die Gerechtigkeit durch einen Mann verliehen wird.

Adam war nicht nur der Vater, sondern auch der Repräsentant der gesamten Menschheit. Wenn wir die enge Beziehung zwischen ihm und der Menschheit richtig verstehen, dann verstehen wir auch, inwiefern seine Sünde gerechterweise die ganze Menschheit betrifft. Adams Sünde wird allen Menschen so zugerechnet, wie die Gerechtigkeit Christi allen zugerechnet wird, die an ihn glauben. Adams Nachkommen sind freilich nicht persönlich schuld an seiner Sünde — genauso wenig haben sie in ihrem Glauben an Christi Gerechtigkeit etwas daran persönlich verdient.

Leiden und Tod werden zu Konsequenzen der Sünde erklärt; der Grund, weshalb alle sterben, liegt darin, dass »alle gesündigt haben«. Jetzt wissen wir aber, dass viele schon im Kleinkindalter leiden und sterben, noch bevor sie persönlicher Sünde schuldig geworden sind. Entweder ist Gott also ungerecht, wenn er die Unschuldigen bestraft, oder diese Kleinkinder sind in irgendeinem Sinne doch schuldig. Wenn aber schuldig, wie können sie gesündigt haben? Es ist unmöglich, ihnen irgendeine Schuld zuzuschreiben außer die, dass sie als Nachkommen Adams gesündigt haben (1 Kor 15,22; Röm 5,12.18); allerdings können sie in keiner anderen Art und Weise gesündigt haben als eben durch jenes Prinzip der Stellvertretung. Obgleich wir nicht persönlich an Adams Sünde schuld sind, werden wir dennoch haftbar gemacht. So sagt Dr. A. A. Hodge:

»Die Schuld von Adams öffentlicher Sünde wird durch einen gerichtlichen Akt Gottes an jedermann sofort vollzogen, der auf die Welt kommt, und auch an all seine Nachkommen. Somit ist die Geburt eines jeden Menschen schon allem Einfluss des Heiligen Geistes beraubt, von dem doch sein moralisches und geistliches Leben abhängt.  … Von Anfang an wohnt ihrer Natur die Tendenz zur Sünde ein; diese Tendenz ist selber Sünde und bestrafenswert. Die menschliche Natur behält seit dem Fall zwar die Fähigkeiten von Vernunft, Gewissen und Handlungsfreiheit und bleibt daher moralisch voll verantwortlich. Doch sie ist geistlich tot; sie ist in ihrer Aversion gegenüber allem, was in Beziehung auf Gott zu tun oder zu lassen wäre, völlig unfähig; sie kann ihre eigenen bösen Neigungen unter keinen Umständen ändern oder sich auch nur moralische Tendenzen aneignen oder zu einer solchen Änderung hinneigen, sie kann letztlich nicht einmal mit dem Heiligen Geist kooperieren, der eine solche Änderung herbeiführen möchte.«7070     A. A. Hodge, Presbyterian Doctrine, S. 21.

Zu den gleichen Schlussfolgerungen kommt Dr . R . L . Dabney in seiner Systematik, jener bedeutende Theologe der Presbyterianischen Kirche:

»Die Erklärung der Lehre der Schuldzurechnung wird von allen akzeptiert, außer von den Pelagianern und Sozinianern7171     Die Sozinianer leugneten die Dreieinigkeit, die Fleischwerdung und die Sakramente (A. d. Ü.). . Der Mensch ist geistlich tot und gehört einer verdammten Rasse an (Eph 2,1—5 u. a.). Ganz offensichtlich steht er unter dem Fluch, und zwar von Anbeginn seines Lebens. Man beachte doch einmal die angeborene Verderbtheit von Kleinkindern; ihr Erbe ist Leid und Tod. Entweder wurde der Mensch im Repräsentanten Adam getestet und fiel mit ihm, oder er wird zu Unrecht verdammt. Entweder steht er unter dem Fluch der Sünde Adams (und dies von Anbeginn  seines Lebens), oder er ist überhaupt nicht schuldig. Richten Sie selbst, was Gottes eher würdig ist: Eine geheimnisvolle Lehre, die Gott die Menschheit mit seinem ersten Vertreter gerechterweise und nach hervorragenden Bedingungen testen lässt, oder eine Lehre, die den Menschen ohne Prüfung verdammt, noch bevor er geboren wird.«7272     Robert L. Dabney, Systematic Theology, S. 330.


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