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10) Die Gründe für die gegenwärtige Unterdrückung des Calvinismus
Welche Gründe sollen wir zur Erklärung der gegenwärtigen Abtrünnigkeit vom Calvinismus anführen? Es wird niemand bestreiten, dass der Stern der gefeierten »Fünf Punkte« heute längst nicht mehr so strahlt wie ehemals. Wenn wir die Entwicklung des gegenwärtigen Denkens betrachten, müssen wir ganz offen zugeben: Die glücklichen Tage des Calvinismus sind vorbei; wo er einst blühte, ist er beinahe verschwunden. Es gibt beinahe keinen »kompromisslosen Calvinisten« mehr unter den anerkannten Theologen, weder in Frankreich, der Schweiz oder auch in Deutschland, wo der Calvinismus sich einst in solcher Größe zeigte. In England ist er praktisch verschwunden. In Amerika gibt es keine größere Kirche mehr, die das calvinistische Erbe unwidersprochen verteidigt. Schottland darf sich glücklich schätzen, dass dort mitten unter stagnierenden Großkirchen diese heldenhaft freie Kirche immer noch ihre Stimme erhebt; die große Freikirche »Gereformeerde Kerken« verkörpert den Calvinismus in reinster Form mitten in einer modernen Welt — eine Kirche, die die christliche Religion kompromisslos hochhält, und das auf der Basis der Heiligen Schriften und des reformierten Glaubens.
Die Geschichte zeigt uns aber recht deutlich, dass auf Perioden geistlicher Fruchtbarkeit oft Zeiten geistlichen Niedergangs folgen. Wir glauben dennoch an die Unbesiegbarkeit des Glaubens. Stürzende Wahrheit wird immer sich erheben; die endlosen Jahre Gottes sind ihrer.
Dass der Calvinismus viele Feinde hat, ist nicht weiter verwunderlich. Solange es heißt: »Der irdisch gesinnte Mensch erfasst nicht, was vom Geist Gottes kommt. Ihm erscheint es töricht. Er kann es nicht begreifen, weil es geistig beurteilt sein will« (1 Kor 2,14), so lange wird er dem natürlichen Menschen auch als fremdartiges, ja törichtes System erscheinen. Und solange die menschliche Natur als Gefallene existiert, so lange auch das Dekret steht, dass Christus selbst »zum Stein des Anstoßes, zum Fels des Ärgernisses« (1 Petr 2,8) gesetzt ist, sind diese Dinge vielen Menschen ein Affront. Es ist auch nicht verwunderlich, dass jener unsterbliche Schweizer Reformator, der berufen war, diese Lehren zu entwickeln und zu verteidigen, auf der einen Seite leidenschaftlich geliebt und bewundert wurde, auf der anderen Seite unter allen bedeutenden Männern der Kirche wohl der meistgehasste war. Da der Glaube und die Umkehr ganz spezielle Gaben Gottes sind, sollten wir über den Unglauben der Welt auch wahrlich nicht verwundert sein; auch der weiseste und scharfsinnigste unter den Menschen kann nicht glauben, wenn es ihm nicht gegeben wird.
Sehr passend heißt es: »Denn die Weisheit dieser Welt ist Torheit vor Gott. Es steht ja geschrieben: ›Er lässt die Weisen in ihrer Schlauheit sich verfangen.‹ Und ferner: ›Der Herr erkennt die Gedanken der Weisen: Sie sind nichtig.‹ Darum rühme sich niemand eines Menschen« (1 Kor 3,19f.). Gottes Wille ist’s, wenn ein Mensch zum Glauben kommt — das Evangelium dringt wohl ins Ohr, doch das ist völlig vergeblich, wenn es Gott nicht gefällt, das Herz eines Menschen zu berühren. Die Welt hat den Calvinismus immer schon bekämpft. Wie könnte es auch anders sein, wenn die Natur des Menschen in Feindschaft und Krieg steht demjenigen gegenüber, der sie geschaffen hat? Es steht nicht zu erwarten, dass Gottes Weisheit mit der Torheit des Menschen einmal zusammenstimmt. Gott ist der allweise, der allheilige Herrscher; der Mensch steht dem als sündenbeladener Rebell entgegen: Er will keinen Herrscher über sich haben, und schon gar keinen absoluten. Da die Feindschaft des menschlichen Herzens den unverwechselbaren Lehren vom Kreuz gegenüber schon immer riesig war, werden Systeme wie Pelagianimus oder Naturalismus, die die Erlösung durch menschliches Handeln propagieren oder auch ein System wie der Arminianismus, der die Erlösung durch das Zusammenwirken der Gnade Gottes mit menschlichem Handeln behauptet, dem unbekehrten Herzen stets willkommener sein. Wenn das Evangelium dem natürlichen Menschen genießbarer gemacht wird, dann ist es nicht mehr das Evangelium, das ein Paulus verkündet hat. Es ist der Erwähnung wert, dass die Verkündigung des Paulus in beinahe jeder Stadt zu Aufruhr oder zu Erweckung geführt hat, nicht selten zu beidem. McFetridge sagt:
»Mag auch der Calvinismus in einigen Gegenden unbeliebt sein, was kümmert uns das? Er kann nicht unbeliebter sein als jene Lehren von Sünde und Gnade, wie sie im Neuen Testament offenbart worden sind.«287287 Quelle nicht angegeben
Ein anderer Grund für den heutigen Niedergang des Calvinismus ist in seiner großen Betonung des Übernatürlichen zu suchen. Der Calvinismus hat in allen Dingen von Ewigkeit zu Ewigkeit immer schon Gott gesehen. Seine Hand sieht er in allen Erscheinungen von Natur und Geschichte. Sein Plan liegt allen Ereignissen zugrunde. Wir leben aber heute in einer Zeit, die das Übernatürliche mehr und mehr ablehnt, daher ist sie dem Calvinismus auch spinnefeind. Heute glaubt man an die Naturwissenschaften, an die Vernunft und an das, was man sehen kann. Selbst im gegenwärtigen Christentum geht die Tendenz dahin, in der Bibel ein bloß menschliches Produkt zu sehen und Christus einen guten Mann sein zu lassen. Der Modernismus ist in seiner stimmigen Form durchaus Naturalismus und Selbsterlösung, und damit ist er die Antithesis zum Calvinismus. Heute sagt man zu Gott »Finger weg!« — da kann es nicht verwundern, dass ein System, das die Übernatürlichkeit so betont, auch dermaßen unpopulär ist. Wir brauchen auch nicht überrascht zu sein, wenn die Mitglieder der eigenen Kirche, die an diese Lehren glauben, in der Minderheit sind. Wahrheit oder Irrtum der biblischen Lehre kann nicht der allgemeinen Zustimmung überlassen sein. B. B. Warfield, dieser Gigant in Wort und Tat, hat die Haltung analysiert, wie sie die Welt in den letzten Jahren dem Calvinismus gegenüber eingenommen hat. Nachdem er den Calvinismus als »zu seinem Recht gekommenen Theismus« oder auch als »Religion auf höchster gedanklicher Ebene« und als »evangelisch in reinster Form und dauerhaftester Prägung« bezeichnet hatte, fügt er hinzu:
»Man bedenke den Stolz des Menschen, die Überzeugung seiner Freiheit, das Sich-brüsten von Macht und der Ablehnung gegenüber dem Einfluss alles anderen; man bedenke auch das tief verwurzelte Vertrauen des Sünders in seine eigene gute Natur und seine Überzeugung, alles, was von ihm verlangt ist, von sich aus leisten zu können. Es ist gar nicht seltsam, dass es gerade in dieser Weltzeit schwer geworden ist, die aktive, lebhafte und vorherrschende Wahrnehmung der alles bestimmenden Hand Gottes zu sehen, die völlige Abhängigkeit von Gott, die Überzeugung von der völligen Unfähigkeit des Menschen, auch nur das Kleinste tun zu können, um sich selbst von eigener Sünde zu erlösen — sollte man da behaupten, das Denken sei zu seiner Höhe gekommen? Ist es nicht genug, nachzuweisen, unter welchem Druck der Calvinismus heutzutage steht, — in diesem materialistischen Zeitalter, das sich seiner erst kürzlich erworbenen Macht über die Kräfte der Natur brüstet und stolz ist auf seinen Wohlstand — um auf die natürlichen Schwierigkeiten hinzuweisen; in allem der vollkommenen Hand Gottes gewahr zu sein, uns unserer Abhängigkeit von einer höheren Macht voll und ganz bewusst zu werden, nie zu vergessen, wie sündig wir sind, wie wertlos und vollkommen hilflos? Besteht nicht die Krise des Calvinismus, sofern sie überhaupt eine ist, darin, dass unser Zeitalter die Erkenntnis Gottes über allen menschlichen Triumphen verdunkelt hat, dass das religiöse Empfinden nicht weiter die bestimmende Kraft in unserem Leben ist, dass die evangelische Wahrheit der völligen Gewissheit der Abhängigkeit von Gott auch in der Heilsfrage dem Menschen nicht mehr länger attraktiv erscheint, der gewohnt ist, sich gewaltsam zu nehmen, was immer er will und der nicht begreifen will, dass er den Himmel nicht erlangen kann?«288288 Warfield in Christianity Today; S. 7, Jahr nicht angegeben.
Es gibt allerdings keinen Grund zur Entmutigung für den Calvinisten. Die Vernachlässigung des Glaubens zugunsten sozialer Belange (worunter allerdings die Lehre leiden muss) hat viele Menschen in die Kirche gebracht, die ihr zu anderen Zeiten ferngeblieben wären. Der Umstand alleine, dass die Calvinisten in den Versammlungen kaum wo auffallen, sagt über sinkende Zahlen nichts aus.
»Vielleicht gibt es heute mehr Calvinisten als je zuvor«, sagt Dr. Warfield. »Die bekennenden calvinistischen Gemeinden haben unzweifelhaft viele davon. Innerhalb des modernen Denkens entstehen Denkansätze, die dem calvinistischen Denken sehr zustatten kommen. Überall finden sich demütige Seelen, die in der Stille ihres Herzens die richtige Vorstellung von Gottes Heiligkeit erfasst haben und in ihrem Herzen die lebendige Flamme völliger Gott-Abhängigkeit unterhalten, welche das wahre Wesen des Calvinismus ausmacht. … Ich bin davon überzeugt, dass der Calvninismus, einst die Sehne der evangelischen Christenheit, auch heute noch die volle Kraft behalten hat und voll guter Hoffnung in die Zukunft blicken kann.«289289 Warfield, The Theology of Calvin, S. 8.
In Übereinstimmung dazu sagt Dr. F. W. Loetscher:
»Dieses Zeitalter muss angesichts seines Wissensstands bestürzt sein; es missachtet die Erkenntnisse der Antike, verschmäht Glaubensbekenntnisse und Dogmen, ist intolerant gegenüber göttlicher und menschlicher Autorität; es ertrinkt in allerlei atheistischen, naturwissenschaftlichen Strömungen und pantheistischen Entwicklungen. Kein Wunder, dass unser Zeitalter seine stärksten Waffen ausgerechnet gegen den Calvinismus ins Feld führt, war doch der Calvinismus immer jene Religionsgemeinschaft, die die übernatürliche Offenbarung am stärksten betont hat und auch die Erlösung von höchster Seite hat ausgehen lassen. Noch vor nur einer Generation hat Professor Henry B. Smith prophezeit: ‚Eines ist sicher: die ungläubige Wissenschaft wird alles in den Schmutz ziehen, was christliche Rechtgläubigkeit heißt.’ Wir wollen dieser Herausforderung mit größtem Ernst begegnen. Wir dürfen — nebenbei gesagt — guten Mutes sein, denn sowenig auch der sündige Mensch den letzten Rest der Empfindung von der Existenz Gottes je verlieren kann, wird auch der Calvinismus nicht von der Erde verschwinden, wie auch der Allmächtige den Thron seiner universalen Herrschaft nicht aufgeben wird.«290290 Quelle nicht angegeben
James Anthony Froude, jener hervorragende Professor für Kirchengeschichte an der Universität Oxford, hat über die zunehmende Leblosigkeit des Christentums in unseren Tagen gesagt:
»Dies war nicht die Religion unserer Väter; dies ist nicht der Calvinismus von einst, der geistliche Finsternis überwand und Könige von ihren Thronen geschleudert hat, der England und Schottland — wenigstens für eine Zeit lang — von Lüge und Scharlatanerie gesäubert hat. Der Geist des Calvinismus wendet sich gegen den Geist der Unwahrheit, jenen Geist, der, wie ich gezeigt habe, immer wieder in Erscheinung getreten ist und auch wiederkehren wird, solange sich nicht herausstellt, dass die Sache mit Gott nur Einbildung war und der Mensch vergeht wie das Tier.«291291 Quelle nicht angegeben
Ich selbst bin in keiner calvinistischen Kirche aufgewachsen. Ich erinnere mich dagegen sehr genau, wie revolutionär mir diese Lehren erschienen waren, als ich das erste mal mit ihnen in Kontakt kam. Es war während eines Weihnachtsurlaubes, als ich den ersten Band der »Systematischen Theologie« von Charles Hodge in die Hände bekam. Er enthält ein Kapitel über die »Ratschlüsse Gottes«. Darin sind diese Lehren mit einer solch zwingenden Logik dargelegt, dass ich nicht länger an ihnen zweifeln konnte. Ich bin in gewissem Sinne stolz darauf, dass ich das Verständnis für diese Lehren erst nach einer Zeit geistlicher und mentaler Kämpfe erlangt habe. Ich habe daher großes Verständnis für all jene, die dazu berufen sind, ähnliches durchzumachen. Ich erinnere mich an das Opfer, das zu bringen war: Ich musste die Gemeinde meiner Jugend verlassen, da es mir unmöglich erschien, in einer Gemeinde zu verbleiben, die nicht wenige Irrtümer lehrte. Die meisten meiner engsten Angehörigen und Freude gehören dieser Gemeinde an; vielleicht wird man mir auch verzeihen, wenn ich ein wenig Intoleranz an den Tag lege gegenüber jedem »geborenen Presbyterianer«, der zwar Mitglied seiner Gemeinde bleibt, obwohl er sich offen gegen diese Lehren wendet.
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