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7) Die Freiheit des Menschen wird nicht verletzt
Gwöhnlich argumentieren Gegner dieser Lehre mit dem Einwand, sie überrumple den Menschen in seiner Freiheit: der Mensch werde gegen seinen Willen zum Glauben an Gott gebracht oder bezüglich seiner Errettung auf die Ebene von Maschinen reduziert. Doch das ist ein Missverständnis. Der Calvinismus selbst hält eine solche Ansicht für falsch; die ganze Lehraussage schließt sie aus, ja, sie widerspricht ihr sogar. Das Westminster-Bekenntnis hat im Anschluss an die Lehraussage, dass die wirksame Gnade, die in jedem Fall zu Bekehrung führt, als Werk des Allmächtigen unhintergehbar ist, den Zusatz stehen:
»Alle diejenigen, die Gott zum Leben vorherbestimmt hat, diese allein beruft er nach seinem Wohlgefallen zu seiner bestimmten und willkommenen Zeit wirksam durch sein Wort und seinen Geist aus dem Stand von Sünde und Tod, worin sie von Natur sind, zur Gnade und Erlösung durch Jesus Christus, indem er ihren Verstand erleuchtet, die göttlichen Dinge geistlich und zum Heil zu verstehen, ihr steinernes Herz wegnimmt und ihnen ein fleischernes Herz gibt, ihre Willensregungen erneuert und sie durch seine allmächtige Kraft zum Guten bestimmt und sie wirksam zu Jesus Christus zieht, doch so, dass sie ganz freiwillig kommen, im Willen geweckt durch seine Gnade.«159159 WB, Art. 10.1.
Die Kraft der Erneuerung ist nicht äußerlich zwingend. Wiedergeburt tut der Seele nicht mehr Zwang an als etwa die Demonstration einer Idee oder die Überredung dem Intellekt antut. Der Mensch wird nicht behandelt, als wäre er ein Stein oder ein Holzklotz. Genauso wenig wird er als Sklave behandelt, der gegen seinen Willen dazu gebracht wird, nach Erlösung zu suchen. Vielmehr wird sein Verstand erleuchtet, werden alle Gedanken über Gott, Selbst und Sünde angepasst. Gott sendet seinen Geist — diese Tatsache bleibt für ewig der Grund zum Preise seiner Barmherzigkeit und Gnade — der den Menschen sanft dazu bringt, sich ihm auszuliefern. Der Wiedergeborene spürt, dass er von anderen Motiven und Wünschen geleitet wird, dass er Dinge, die er einmal gehasst hat, jetzt liebt und sucht. Diese Veränderung wird durch keinerlei äußerlichen Zwang herbeigeführt, sondern durch ein neues Lebensprinzip, das seiner Seele eingestiftet wird und das nach einer neuen Art von Nahrung sucht, die dieses Prinzip befriedigt.
Das geistliche Gesetz ist ganz wie das Zivilgesetz »nicht ein Schrecken für gute, sondern für schlimme Taten« (Röm 13,3); wir finden sogar ein gutes Beispiel in menschlichen Angelegenheiten. Man vergleiche einmal die Haltung eines unsträflichen Bürgers und die eines Kriminellen zum Gesetz: Der Unbescholtene geht einfach seinem Tagesgeschäft nach, ohne dass er sich der meisten der Gesetze seines Landes überhaupt bewusst ist oder sie auch nur kennt. Er betrachtet weder Regierung noch Polizei als Feind. Für ihn repräsentieren diese Institutionen Autorität, die er respektiert und akzeptiert. Er ist ein freier Mensch. Das Gesetz schützt sein und seiner Lieben Leben und auch sein Eigentum. Im Fall des Kriminellen ändern sich die Dinge: er kennt das Gesetz vielleicht schon etwas besser als der Unbescholtene. Er studiert es, um es umgehen zu können oder für sich unwirksam machen zu können. Er lebt ein Leben in Furcht. Er stattet seine »Residenz« vielleicht mit kugelsicheren Türen aus und trägt womöglich eine Waffe bei sich, um Polizei oder Gegner ausschalten zu können. Er befindet sich ständig unter einem gewissen Zwang. Seine Idee der Freiheit heißt, die Polizei ausschalten zu können, den Richter zu bestechen und die Gesetze in Misskredit zu bringen. Die Gebräuche der Gesellschaft zieht er in den Schmutz, denn er will die Gesellschaft berauben. Alltäglich lehnen wir vieles für uns ab, aber die Eingliederung neuer Fakten in unser Denken geschieht völlig freiwillig — wir haben nun Freude an Dingen, die wir vorher nicht mochten. Nichts im Calvinismus weist darauf hin, dass der Mensch gegen seinen Willen bekehrt wird und gegen seinen Willen zum Glauben gebracht wird.
Man könnte einwenden, die Bibel sage an vielen Stellen eindeutig: Wenn du dies oder das einhältst oder tust, wenn du zum Herrn zurückkehrst, wenn du tust, was böse ist usw — all das setze den freien Willen und damit die Möglichkeit voraus, das eine oder andere wählen zu können. Darauf ist zu antworten: Aus einem Befehl Gottes folgt nicht, dass der Mensch diesem Befehl auch Folge leisten kann. Wie oft spielen nicht Eltern mit ihren Kindern und befehlen ihnen Dinge, die sie noch gar nicht können, nur um ihnen zu zeigen, dass sie die Hilfe ihrer Eltern brauchen und sie darum auch bitten sollen? Weltmenschen lesen die biblischen Texte freilich unter der Annahme, sie verfügten über die Möglichkeit, die Aufforderungen zu befolgen, wenn sie wollten, doch damit betrügen sie sich selbst, ganz genau so wie der Schriftgelehrte, dem Jesus sagte: »Tu das, dann wirst du leben«. Die Schriftgelehrten gingen weg und glaubten, nun könnten sie sich ihre Erlösung durch gute Werke erkaufen. Wenn der geistlich gesinnte Mensch solche Sprache hört, dann führt ihn das immer zur Erkenntnis: Das kann ich nicht einhalten! Es führt ihn dazu, den Vater zu bitten, es für ihn zu tun. Jene Schriftstellen sagen dem Menschen nicht, was er tun kann, sondern was er tun soll, und wehe dem, der so blind ist, diese Wahrheit nicht zu erkennen, denn bevor er diese Wahrheit nicht sehen kann, kann er das Heilshandeln Christi nie angemessen würdigen. Der verzweifelte Sünder schreit auf zu Gott, und was ihm nun offenbart wird, ist nichts als reinste Gnade, ein reines Geschenk der Liebe Gottes und der Barmherzigkeit, die Er durch Christus erzeigt. Jeder, der sich auf diese Weise gerettet sieht, schreit mit David heraus: »Wer bin ich, allmächtiger Herr? Was ist mein Haus, dass du mich bis hierher gebracht hast?« (2. Sam. 7,18).
Die spezielle Gnade, die wir hier als vollwirksam verstehen, wird manchmal »unwiderstehliche Gnade« genannt. Diese Formulierung ist unglücklich gewählt, weil sie auszusagen scheint, dass sie jemanden gegen seinen Willen zu etwas zwinge; gemeint ist aber, wie ich vorhin gesagt habe, dass die Erwählten so von der göttlichen Macht beeinflusst werden, dass sie sich völlig freiwillig Gott zuwenden.
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