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Das Vorherwissen Gottes
Der Einwand der Arminianer gegen die Vorherbestimmung richtet sich mit gleicher Kraft gegen das Vorherwissen Gottes: Was Gott im Voraus weiß — und das liegt schon in der Natur der Sache! — muss so sicher eintreffen wie das, was Gott vorherbestimmt hat; die Vorherbestimmung behauptet die Gewissheit der Ereignisse; das (bloße) Vorherwissen setzt diese Gewissheit aber unbewusst voraus. Wenn Gott die Dinge vorausweiß, dann können sie sich nicht auch anders entwickeln. Wenn der Ablauf der Geschichte vorhergesehen werden kann, dann verläuft der Kurs der Geschichte wie eine Lokomotive auf Schienen von New York nach Chicago. Die arminianische Lehre, die die Vorherbestimmung leugnet, leugnet damit nichts weniger als genau dieses logische Axiom. Der gesunde Menschenverstand sagt uns aber, dass nichts vorausgewusst werden kann, sei es physischer oder geistiger Natur, wenn es nicht vorher auf die eine oder andere Weise vorherbestimmt war. Mit ›Vorherbestimmung‹ bezeichnen wir zweierlei: Entweder die Vorherbestimmung des weisen und barmherzigen, himmlischen Vaters, oder den Zwang des blinden Schicksals. Die Sozinianer und Unitarier werden kaum dem evangelikalen Glauben zuzuzählen sein4242 Zur Unterscheidung der Begriffe evangelisch und evangelikal: Das englische "evangelical" bedeutet heute sowohl evangelisch wie auch evangelikal. Der Begriff „evangelikal“ ist eine Rückübersetzung des englischen "evangelical". Heute wird er im deutschen Sprachraum für jene Christen verwendet, die sich von den liberalen Ansichten der evangelischen Kirche abgrenzen und sich zur Bibeltreue bekennen. Da sich auch Boettners Theologie deutlich von der liberalen Theologie der evangelischen Landeskirche abgrenzt und der Begriff "evangelisch" (= sich auf das Evangelium berufend) schon besetzt ist, habe ich zur Unterscheidung manchmal den Begriff "evangelikal" verwendet. Leider verliert der Begriff »evangelikal« heute immer mehr an ursprünglicher Aussagekraft (A. d. Ü.). wie die Arminianer, waren aber in Bezug auf unser Thema konsequenter, denn als sie die Vorherbestimmung leugneten, leugneten sie damit auch, dass Gott die Handlungen der freien Menschen vorhersehen könne. Es läge in der Natur der Sache, so meinten sie, dass man nicht wissen könne, wie eine Person handeln werde, solange dieser Zeitpunkt noch nicht gekommen ist und jene Person sich zu einer Handlungsweise entschieden hat. Eine solche Sicht degradiert freilich die biblischen Prophezeiungen zu Vermutungen und greift damit auf zerstörerische Weise die Lehre von der Unfehlbarkeit und Inspiration der Heiligen Schrift an. Diese Sicht wurde daher im Lauf der Geschichte von allen anerkannten Kirchen verworfen. Einige Sozinianer und Unitarier waren unerschrocken und aufrichtig genug, zuzugeben, dass der Grund für ihr Leugnen des göttlichen Vorherwissens menschlicher Akte darin bestehe, dass sie die calvinistische Lehre von der Prädestination nicht widerlegen könnten, wenn sie dieses göttliche Vorherwissen nicht leugneten. Viele Arminianer spürten die Stärke dieses Arguments, und Obgleich sie den Unitariern in der Leugnung des göttlichen Vorherwissens nicht gefolgt sind, haben sie doch klar gemacht, dass sie sie leugnen würden, wenn sie das könnten, oder es zumindest wagen würden. Manche haben von dieser Lehre sehr abschätzig gesprochen und zu verstehen gegeben, dass es nicht wichtig sei, daran zu glauben oder nicht.
Manche gehen so weit, uns klarzumachen, es sei besser, auch das Vorherwissen Gottes zu leugnen als an die Vorherbestimmung zu glauben. Andere haben vorgeschlagen, Gott verzichte freiwillig auf sein Vorherwissen, damit die Handlungen der Menschen frei blieben; ein solcher Verzicht jedoch negiert die Allwissenheit Gottes! Wieder andere haben gemeint, der Umstand, dass Gott allwissend ist, besage bloß eine Möglichkeit, ganz wie er seine Allmacht ja auch nur da ausübe, wo er es wolle. Aber dieser Vergleich hält nicht, denn die Gewissheit der Handlungen sind keine Möglichkeit, sondern Realität, wenngleich noch Zukunft; Gott über diese Dinge Unwissenheit zuzuschreiben spricht ihm die Eigenschaft der Allwissenheit ab. Wir hätten einen Gott, der, obgleich allwissend, eben doch nicht alles wissen würde.
Wenn der Arminianer mit dem Argument des Vorherwissens Gottes konfrontiert wird, muss er zugeben: Das Zukünftige ist gewiss. Geht es jedoch um die freien Handlungen von Menschen, dann will er zugestanden haben, dass einzelne Handlungen immer noch ungewiss bleiben müssten, da sie ja von der jeweiligen Person abhingen. Das ist aber ein Widerspruch: Wer behauptet, die Handlungsfreiheit der Menschen sei ungewiss, opfert die Souveränität Gottes der Freiheit des Menschen.
Wenn die Handlungen des freien Menschen in sich selbst unsicher wären, dann müsste Gott stets auf die Manifestation dieser Handlung warten, bevor er das Ergebnis in seine Pläne einbauen kann. Wollte Gott demnach jemanden bekehren, müsste man sich ihn vorstellen wie Napoleon, von dem gesagt wird, er habe jedes mal, wenn er in eine Schlacht zog sei, drei oder vier Pläne im Gedächtnis gehabt, so dass er im Falle des Fehlschlagens des ersten Plans auf den zweiten zurückgreifen konnte usw. Ein solcher Gott widerspräche seiner eigenen Natur! Das Meiste der Zukunft müsste ihm da verborgen bleiben; täglich müsste er erneut riesiges Wissen anhäufen. Seine Weltregierung wäre in der Tat eine ziemlich unsichere Sache — jedes mal davon abhängig, wie sich die Menschen entscheiden werden.
Gottes vollkommenes Vorauswissen und Unveränderlichkeit zu leugnen macht ihn zu einer enttäuschten und unglücklichen Figur, die von seiner eigenen Kreatur ständig besiegt und schachmatt gesetzt wird. Wer kann sich vorstellen, dass Gott, der Herr, angesichts des Menschen sitzen und warten und sich fragen muss: »Was wird er tun?«. Abgesehen davon, dass Arminianer das Vorauswissen Gottes leugnen, stehen sie damit ohne Argument gegen die logische Konsistenz des Calvinismus da, denn Vorauswissen impliziert Gewissheit, und Gewissheit impliziert Vorherbestimmung.
Mit den Worten Jesajas gesprochen, der den Herrn sagen lässt: »Ich verkündige von Anfang an das Ende, und von der Vorzeit her, was noch nicht geschehen ist. Ich sage: Mein Ratschluss soll zustande kommen, und alles, was mir gefällt, werde ich vollbringen« (Jes 46,10). »Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne«, sagt der Psalmist in Ps 139,2. Er »kennt das Herz«, Apg 15,8. »Kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern alles ist enthüllt und aufgedeckt vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft zu geben haben« (Heb. 4,13).
Vieles von der Schwierigkeit in Bezug auf die Vorherbestimmung resultiert aus der Unvollkommenheit unseres Verstandes, der jeweils nur einige Details ergreifen kann und der auch die Beziehung zwischen den Teilen nur unvollständig versteht. Wir sind Geschöpfe der Zeit und vergessen oft den Umstand, dass Gott keinerlei Begrenzungen unterliegt. Was uns vergangen, gegenwärtig und zukünftig erscheint, ist seinem Geiste stets gegenwärtig. Er lebt im ewigen »Jetzt«. Er ist »der Hohe und Erhabene, der ewig wohnt und dessen Name ‚Der Heilige‘ ist« (Jes 57,15). »Denn tausend Jahre sind vor dir wie der gestrige Tag, der vergangen ist« (Ps 90,4). Was wir geschehen sehen, ist nichts anderes als das, was Er von Ewigkeit verordnet hat, dass es geschehen soll. Zeit ist eine Eigenschaft, die zur Schöpfung gehört; für Gott ist sie jedoch »Gegenstand«. Er steht über ihr und sieht sie, ist ihr aber nicht unterworfen. Er ist auch dem Raum nicht unterworfen, der ebenso eine Eigenschaft der Schöpfung ist. Genauso wie er die ganze Straße von New York nach San Francisco auf einmal sehen kann, während wir immer nur das kleine Stückchen sehen, auf dem wir gerade fahren, so sieht er alle Ereignisse der Geschichte auf einmal: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die ganze Geschichte als ein ewiges »Jetzt« vor ihm steht und er der Schöpfer aller endlichen Existenz ist, dann wird der Gedanke an die Vorherbestimmung wesentlich einfacher.
In den ewigen Zeitaltern vor der Schöpfung kann es so etwas wie Gewissheit der zukünftigen Geschehnisse nicht gegeben haben, und zwar genau so lange nicht, als Gott seinen Plan gefasst hatte. Der Weg von der Kategorie der Möglichkeit zur Kategorie der Gewissheit geht nur über die Beschlüsse Gottes. Diese Gewissheit kann ihren Grund nicht außerhalb Gottes haben, denn unabhängig von Gott existiert in alle Ewigkeit nichts. Dr . R . L . Dabney sagt ganz treffend:
»Der einzige Weg, auf welchem etwas auf irgend eine Weise aus dem Dunkel der Möglichkeit in das Licht der Wirklichkeit treten kann, ist der, dass Gott seine Möglichkeit zulässt; sei es, indem er selbst diese Möglichkeit Wirklichkeit werden lässt oder eines seiner Geschöpfe veranlasst, die Sache Wirklichkeit werden zu lassen. All dies kann nicht ohne Gottes Wissen und Wollen geschehen. Das sieht man an den Tatsachen: Mögliches kann nur wirklich werden, insofern es eine zureichende Ursache hat. Wenn Gott nach vorne blickt und alles sieht, was geschehen wird, dann ist eines klar: Er selbst ist die erste Ursache all dieses Geschehens. Jede Ursache samt ihrer Wirkung muss letztlich auf Ihn zurückgeführt werden. Wenn Gottes unendliches Vorherwissen jede Wirkung umgreift, die seine Geschöpfe zeitigen, dann bedeutet der Umstand, dass er diese Geschöpfe existieren lässt, nichts anderes, als dass Er selbst jene Wirkungen beabsichtigt hat.«4343 Robert L. Dabney, „Systematic Theology“, S. 212.
Zum gleichen Ergebnis kommt auch der baptistische Theologe Dr. A. B. Strong. Strong war einige Jahre Präsident und Professor am Rochester Theological Seminary. Er schreibt:
»In der Ewigkeit kann es keine Ursache für die Existenz des Universums gegeben haben, welche außerhalb des Handlungsbezirks Gottes gewesen wäre, da ohne Wissen und Wollen Gottes nichts existieren kann. Gott hat aber in Ewigkeit vorhergesehen, dass die Schöpfung der Welt und ihrer Naturgesetze alles, was geschehen wird, auf eine gewisse und bestimmte unveränderliche Art festlegen, und zwar bis ins unbedeutendste Detail. Dennoch hat Gott beschlossen, diese Welt zu erschaffen — und damit ihre Gesetze. Damit hat er aber nichts anderes getan, als das Feststehende zu beschließen, und das bedeutet: Der Beschluss, diese Welt zu erschaffen impliziert die Gewissheit alles dessen, was innerhalb dieser Schöpfung geschehen wird.4444 A. B. Strong, „Systematic Theology“, S. 356.
Vorherwissen darf nicht verwechselt werden mit Vorherbestimmung! Vorherwissen setzt Vorherbestimmung voraus, ist ihr aber nicht gleichzusetzen. Die Handlungen freier Menschen finden nicht statt, weil sie vorhergesehen werden; sie werden vorhergesehen, weil gewiss ist, dass sie stattfinden werden. Daher sagt Strong:
»Der Beschluss geht dem Vorherwissen logischerweise — wenn auch nicht chronologisch — voraus. Wenn ich sage: ›Ich weiß, was ich tun werde‹, ist klar, dass ich vorherbestimmt habe, was ich tun will und dass mein Wissen um das, was ich vorhabe, dieser Bestimmung keineswegs vorangeht, sondern ihr folgt und erst darin gründet.«4545 Ebd., S. 357.
Da Gottes Vorherwissen alles umfasst, kennt er auch das Schicksal jeder einzelnen Person nicht nur bevor diese Person ihre eigenen Entscheidungen getroffen hat, sondern von Ewigkeit her! Und da er das Schicksal jedes Menschen kennt, noch bevor er geschaffen ist, ihn aber dennoch ins Dasein ruft, ist klar, dass sowohl Errettete als auch Verlorene seinen Plan erfüllen; denn wenn er nicht geplant hätte, dass irgend jemand verloren gehe, hätte er diese Person ja auch nicht zu erschaffen brauchen.
Wir müssen also daraus schließen, dass die christliche Lehre vom Vorherwissen Gottes die Prädestination voraussetzt. Diese Dinge können einzig und allein deshalb vorhergesehen werden, weil sie gewiss sind, und nichts und niemand kann diese Dinge gewiss machen als das Wohlgefallen Gottes, dieser „ersten großen Ursache“, welche frei und unveränderlich verordnet, was kommen muss. Die ganze Schwierigkeit liegt darin, zu zeigen, wie denn die menschlichen Handlungen jetzt noch »frei« genannt werden können. Eines muss man zugeben: Dass etwas in Zukunft gewiss geschehen wird, dieser Gedanke ist die Grundlage jeglichen Vorherwissens und wird von der Vorherbestimmung erst möglich gemacht. Der Arminianismus müsste beides widerlegen — Vorherwissen und Vorherbestimmung, wollte er konsequent sein. Da er damit aber zu viel »be- wiese«, müssen wir daraus schließen, dass er gar nichts beweist. Soviel zu A . B . Strong.
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